Frau Berta oder die weiße Frau
Die weiße Frau erscheint in den
Schlössern mehrerer fürstlichen Häuser, namentlich zu Neuhaus
in Böhmen, zu Berlin, Bayreuth, Darmstadt und Karlsruhe und in allen,
deren Geschlechter nach und nach durch Verheiratung mit dem ihren verwandt
geworden sind. Sie tut niemanden zuleide, neigt ihr Haupt, vor wem sie
begegnet, spricht nichts, und ihr Besuch bedeutet einen nahen Todesfall,
manchmal auch etwas Fröhliches, wenn sie nämlich keine schwarzen
Handschuh anhat. Sie trägt ein Schlüsselbund und eine weiße
Schleierhaube. Nach einigen soll sie im Leben Perchta von Rosenberg
geheißen, zu Neuhaus in Böhmen gewohnt haben und mit Johann
von Lichtenstein, einem bösen, störrischen Mann, vermählt
gewesen sein. Nach ihres Gemahls Tode lebte sie in Witwenschaft zu Neuhaus
und fing an, zu großer Beschwerde ihrer Untertanen, die ihr frönen
mußten, ein Schloß zu bauen. Unter der Arbeit rief sie ihnen
zu, fleißig zu sein: »Wann das Schloß zustand sein wird,
will ich euch und euren Leuten einen süßen Brei vorsetzen«,
denn dieser Redensart bedienten sich die Alten, wenn sie jemand zu Gast
luden. Den Herbst nach Vollendung des Baues hielt sie nicht nur ihr Wort,
sondern stiftete auch, daß auf ewige Zeiten hin alle Rosenbergs
ihren Leuten ein solches Mahl geben sollten. Dieses ist bisher fort geschehen
*), und unterbleibt es, so erscheint sie mit zürnenden Mienen. Zuweilen
soll sie in fürstliche Kinderstuben nachts, wenn die Ammen Schlaf
befällt, kommen, die Kinder wiegen und vertraulich umtragen. Einmal,
als eine unwissende Kinderfrau erschrocken fragte: »Was hast du
mit dem Kinde zu schaffen?« und sie mit Worten schalt, soll sie
doch gesagt haben: »Ich bin keine Fremde in diesem Hause wie du,
sondern gehöre ihm zu; dieses Kind stammt von meinen Kindeskindern.
Weil ihr mir aber keine Ehre erwiesen habt, will ich nicht mehr wieder
einkehren.«
Kommentar: Joh. Jac.
Rohde: De celebi spectro, quod vulgo die weiße Frau nominant, Königsberg
1723, 4.
Stilings Theorie der Geisterkunde, S. 351 - 359.
Erasm. Francisci Höll. Proteus, S.
59 - 92.
Vgl. Volksmärchen der Frau Naubert, Bd. III.
Quelle: Deutsche Sagen, Jacob Grimm, Wilhelm Grimm (Brüder Grimm),
Kassel 1816/18, Nr. 267