Der Markgräfin Schleier
Agnes, Kaiser Heinrichs IV. Tochter, stand mit
Leopold dem Heiligen, Markgrafen von Östreich, den achten Tag ihrer
Hochzeit an einem Fenster der Burg und redete von der Stiftung eines Klosters,
um die ihm Agnes anlag. Indem kam ein starker Wind und führte den
Schleier der Markgräfin mit sich fort. Leopold aber schlug ihr die
Bitte mit den Worten ab: »Wenn sich dein Schleier findet, will ich
dir auch ein Kloster bauen.« Acht Jahre später geschah es,
daß Leopold im Walde jagte und auf einem Holunderstrauch Agnesens
Schleier hangen sah. Dieses Wunders wegen ließ der Markgraf auf
der Stelle, wo er ihn gefunden hatte, das Kloster Neuburg bauen; und noch
heutigentages weist man daselbst den Schleier sowohl als den Stamm des
Holunderbusches.
Kommentar:
Berkenmeyer: Antiquar S. 488. Taschenbuch für Vaterl. Gesch.
Wien 1811. Vergl. Naubert Volksmärchen III, 113 - 117, 130 - 138.
Quelle: Deutsche Sagen, Jacob Grimm, Wilhelm Grimm (Brüder Grimm),
Kassel 1816/18, Nr. 498