HILDE SCHNEE
Kaiser Ludwig der Fromme jagte einst zur Winterszeit im Walde und verlor
sein Reliquienkreuz, das er stetig am Halse trug. Da sandte er Diener
aus, das vielwerte Kreuz zu suchen, und siehe, tief im Walde trafen sie
mitten im Schnee einen blühenden Rosenstrauch, und an diesem Strauche
lag des Königs Kreuz, ließ sich aber nicht von dannen heben
und wegnehmen. Da ward dem König die Wundermär angesagt, und
er eilte selbst an den Ort und fand nur eine Waldstrecke beschneit in
Form eines großen Kirchenschiffes und am obern Ende den über
und über voll blühenden Rosenstock und daran am Stamm das Kreuz,
daß sich der König über alle Maßen verwunderte.
Da rief er aus: Das ist Hilde-Schnee (Rosenschnee), und kniete nieder
und betete zu Gott, ihm zu offenbaren, warum das Kreuz nicht von der Stelle
wolle. Und da ward ihm offenbaret, einen Dom zu bauen: So weit des heiligen
Schnees Umfang reiche, so groß solle des Domes Umfang sein. Da gelobte
der König den Bau, und da vermochte er sein Kreuz wieder an sich
zu nehmen. Ludwig ließ alsbald den Raum abstecken, den Tempelbau
beginnen und trug Sorge, daß der Rosenstock erhalten bleibe. Um
das hohe Münster siedelten sich nun Bau- und Werkleute und andere
Fromme an, der König verlegte das Bistum von Elze an diesen Ort,
der nun fortdauernd Hildeschnee hieß, bis daraus im Laufe der Zeit
der Name Hildesheim entstand. Der Rosenstock wuchs fort und gedieh und
steht heute noch am Hildesheimer Dome. Seine Wurzeln treibt er bis unter
den Hochaltar, da schnitzte einst ein frommer Domherr aus einem Wurzelstock
ein Kruzifix, das ward in hohen Ehren gehalten, und jeden Karfreitag,
oder jeden Morgen in der Karwoche, mußten die Domherren das Kreuz
in das Heilige Grab legen, das im Paradiese, oder der Vorhalle, bereitet
war. Einstmals vergaßen die Domherren, dies zu tun, da hob das Bild
sich von seiner Stelle und wandelte von selbst in das Grab. Seitdem ward
es das Wandelkreuz genannt und noch mehr denn zuvor verehrt.
Auch im Hildesheimer Chorgestühle soll, wie zu Corvey durch die Lilie
und zu Lübeck und Breslau durch eine Rose, der jedesmalige bevorstehende
Tod eines Chorherrn durch eine weiße Rose angezeigt worden sein.
Quelle: Ludwig Bechstein, Deutsches Sagenbuch,
Leipzig 1853