VOM KLEINEN ARBERSEE

Nahe an der bayerisch-böhmischen Grenze, in ziemlicher Nähe des Arbers, hausten vor vielen Jahren ein paar Dutzend Waldler in ihrem weltentlegenen Dörflein schlecht und recht, wie sie es von Väterzeiten gewohnt waren. Schlecht, weil sie nur Erdäpfel und Ziegenmilch, selten ein Stück Fleisch (nur dann und wann hatten sie Hasenbraten oder einen Rehschlegel in der "Rein") zu kosten hatten; recht, weil sie jahraus, jahrein nichts anderes als harte Arbeit kannten und nur dicke Schwielen an den Händen fühlten; aber nie murrten, sondern immer mit ihrem Lose zufrieden waren.

Sonntags gingen sie in ihre Kirche und beteten zu ihrem Herrgott, aßen dieselbe Speise, die sie werktags hatten. Das Wirtshaussitzen kannten sie nicht, dafür flickten sie ihre zerrissenen Wämser und Hosen, besserten die schadhaft gewordenen Werkzeuge aus und sangen ihre alten Weisen oder erzählten sich wieder und immer wieder ihre Sagen und Geschichten. Ihr betagter Pfarrer lebte wie sie, ja, hungerte wie sie. Er starb. Nun kam an seine Stelle ein jüngerer Mann. "Ausmisten! Ausmisten!" war sein Wahlspruch. Er wußte nicht, daß es leichter geht, wenn einer sich nach vielen richten soll, als daß viele sich nach einem richten und statt schließlich langsam in seiner Seelsorge ändernd einzugreifen, ging er rips, raps darauf los. Doch gewöhnten sich die braven Waldler bald in dieses Neue, bald in jenes; aber daß sie von Zeit zu Zeit Haus und Herd auf zwei oder gar drei Tage verlassen sollten um einmal nach Neukirchen hl. Blut, ein andermal nach Regen, ein drittes Mal ins Böhmische hinüber zu wallfahren, das ging ihnen nicht ein. Sie setzten sich in den Kopf, hier fest zu bleiben und es beim Alten zu lassen, d. h. wenn der Pfarrer wallfahren gehen will, ihn allein reisen zu lassen.

So ward an Maria Himmelfahrt (15. August) die erste Wallfahrt nach Neukirchen hl. Blut angesetzt ... Morgen sollte es bei Tagesgrauen dahingehen. Der Pfarrer stand mit den Ministranten und dem Mesner bereits in der Kirche und wartete der säumigen Begleiter. Da erhob sich plötzlich ein Sturmwind, wie man ihn noch nie erlebt hatte. Das pfiff und heulte und zischte und krachte und rollte, als ob das Ende der Welt nahe sei. Zwei volle Stunden dauerte das Unwetter. Da verging auch dem Pfarrer die Lust zu wallfahren ...

Ein paar unserer Waldler hatten sich nämlich bereits vortags zum kleinen Arbersee, dem Ursprung des weißen Regen, geschlichen und hatten Stein auf Stein in denselben geschleudert; denn schon ihre Großmütter hatten erzählt, daß es jedesmal ein gräßliches Ungewitter gebe, wenn man Steine in den kleinen Arbersee wirft.

Michael Waltinger, Niederbayerische Sagen