DIE SAGE VON DER RUSEL
Auf der Rusel ist das Heim eines Zwerges. Schon viele tausend Jahre hauste er still und mutterseelenallein in seinem unterirdischen Kämmerlein. Mit seinem Hammer hieb er sich viele Gänge aus, die er gleich seiner Wohnung mit lichtem Karfunkel, glitzerndem Golde und blendendem Kristall schmückte. Hin und wieder verließ er seinen feinen Bau und wärmte sich am sonnigen Abhange. Zur selben Zeit kamen auch die ersten Ansiedler in die Gegend. Als nun das Zwerglein wieder einmal sein gewohntes Plätzchen aufsuchen wollte, hörte er zum erstenmale in seinem Leben eine Menschenstimme; ein Hirtenmädchen sang liebe Lieder. Da fiel es ihm schwer aufs Herz; er hockte sich hin und sann lange, wie doch sein Leben bis jetzt so einsam und langweilig war und wie es viel schöner wäre, wenn er auch ein Menschenkind in seinem Schlößlein hätte. Andern Tages putzte und wusch er sich, zog auch sein schönstes Kleid an und schob viel farbige Edelsteine in die Taschen. So zeigte er sich dem Mädchen. Wie dieses das alte, kleine Männchen mit dem langen, weißen Barte sah, graute ihm. Doch der Zwerg redete so lieb mit ihm, wie sein Ahnl und er gab ihm auch die glänzenden Edelsteine zur Kurzweil. Da verlor es alle Scheu, ja, nach und nach wurden beide ganz vertraulich miteinander. So spielten sie täglich, bis der Winter herannahte. Nun wollte er ihm auch einmal sein Kämmerlein zeigen. Wohl mußte es sich arg bücken und gar manchmal stieß es sich am Gestein an. Doch es achtete dessen nicht; denn das Flimmern und Leuchten in dieser unterirdischen Herrlichkeit nahm seine Sinne ganz gefangen. "Tändle nur fort bis in die Ewigkeit", sagte der Zwerg. Das Mädchen ließ sich das nicht zweimal schaffen. Es nahm hier eine Vase, dort eine Schale, jetzt einen Karfunkel, dann eine Goldkugel. Wie im Fluge schwand im Bannkreise des Zwerges die Zeit; ja, es waren schon 10 Jahre vorbei und das Mädchen glaubte, erst ein Stündchen im Erdinnern gewesen zu sein. Da fiel ihr unversehens ein Lilienkranz aus Alabaster zu Boden und von dem Klirren fuhr es auf, wie aus einem tiefen Traum. Der Bann war für das Mädchen gebrochen. Noch immer stand vor ihm das Männlein mit dem langen, weißen Bart; denn für Zwerge gibt es weder Zeit noch Wachstum. Das Hirtenmädchen war aber während der 10 Jahre gegen ihn zu einer Riesin herangewachsen; eine liebreizende Jungfrau mit goldenen Locken war aus ihm geworden. Aber o Schrecken! Der Ausgang war ihm versperrt; es konnte nimmer zum Sonnenlichte kommen. Da weinte es und rief um Hilfe in seiner Verzweiflung und sein Jammern widerhallte im ganzen Zwergenreiche. Aber es half alles nichts! Die Gänge waren zu schmal und zu niedrig. Endlich befreite es aus seiner entsetzlichen Lage der Tod.
Nun kam Leben in den bisher vor Schrecken wie versteinert dastehenden Zwerg. Er meißelte für die verstorbene Jungfrau einen Sarg aus Kristall und schmückte ihn mit Gold und Edelsteinen. Am Fuße des Sarges sitzt und weint er nun in ewigem Schmerze. So trauert er schon Jahrhunderte lang und seine Tränen sammeln sich in einer Quelle, aus der sie wie ein eiskaltes Brünnlein zutage fließen.
Karl Vaitl
Michael Waltinger, Niederbayerische Sagen