DIE ERSCHEINUNG BEI DER RUINE DIEßENSTEIN

Ein Handwerksmann aus der Donaugegend hatte einmal um Freying zu tun und trat noch am Abend desselben Tages den Heimweg an. Nachdem er einige Stunden einsam dahingewandert war, ohne an ein Haus zu kommen, merkte er, daß er sich verirrt habe. Um Mitternacht endlich gewahrte er ein Licht. Freudig eilte er darauf zu. Er glaubte eine menschliche Wohnung zu finden; aber wie erstaunte er und wie erschrak er zugleich, als er zu dem Lichtlein kam! Vor ihm saß auf grauem Mauergestein eine wunderholde Jungfrau. Die Jungfrau stieg lächelnd von ihrem Sitze - es war die Schloßmauer zu Dießenstein - herab und klopfte mit einem Stabe auf den Boden. Die Erde tat sich auf und ein Schatz von Gold und Edelsteinen wurde sichtbar. Die Jungfrau stieg einige Stufen in die offene Gruft, die sich aufgetan, hinab und winkte dem Manne, ihr zu folgen. Dieser aber blieb wie gebannt auf seinem Platze stehen.

Nachdem er sich von seinem Schrecken einigermaßen erholt hatte, floh er. Traurig sah ihm die Jungfrau nach, ihm beständig winkend. Plötzlich entstand ein unterirdisches Rollen, dann herrschte geheimnisvolle Ruhe wie vorher und der Spuk, Schatz und Jungfrau, war verschwunden.

Michael Waltinger, Niederbayerische Sagen