DIE RÖMERSTRAßE

Man spricht im Dorf noch oft von ihr,
Der alten, drauß im tiefen Walde,
Sie zeige sich noch dort und hier,
Am Feldweg und am Saum der Halde.

Sie zieht herauf und steigt hinab,
Es weidet über ihr die Herde;
An ihrer Seite manches Grab,
So liegt sie drunten in der Erde.

Es führt ob ihr dahin der Steg;
Der Pflüger mit dem Jochgespanne
Geht über ihren Grund hinweg
Und Wurzeln schlägt auf ihr die Tanne.

Der Römer hat sie einst gebaut
Und ihr den Ruhm, die Pflicht, die Trauer,
Der Gräber Urnen anvertraut
Und seines Namens ew'ge Dauer.

Und heut' aus ferner Zeiten Nacht
Bewegt es mich wie nahes Wehen;
Ein Lichtstrahl wie von selbst erwacht,
Ein Augenblick wie Geistersehen.

Mir ist, Kohorten schreiten dort
Gepanzert nach dem Lagerwalle,
Es tönt der Kriegstribunen Wort
Vom Turm her zu der Tuba Schalle.

Und eine Villa glänzt am Strom,
Wo Kähne landen, Sklaven lärmen;
Der Herr des Hauses seufzt nach Rom,
Nach Tibur und nach Bajäs Thermen.

Zur Gruftkapelle draußen wallt
Mit Trauerspenden, ihrem Sohne
Das Grab zu schmücken, die Gestalt
Der tief verschleierten Matrone.

Der Prätor naht, vom Volk umringt;
Liktoren zieh'n, behelmte Reiter
Und wie sich Bild mit Bild verschlingt,
Am Tag traumwandelnd schreit' ich weiter.

Da plötzlich ruft ein Laut mich wach,
Ein Erzgedröhn auf nahen Gleisen
Ich steh' am Kreuzweg; hier durchbrach
Den Römerpfad der Pfad von Eisen.

Und donnernd rollt der Wagenzug
Vorbei den alten Meilensteinen,
Wie Blitz des Zeus und Geisterflug,
Der Erde Völker zu vereinen

H. Lingg

Michael Waltinger, Niederbayerische Sagen

Anmerkung:

Hermann Ritter von Lingg, Schriftsteller,
* 22.1.1820 Lindau/Bodensee,
+ 18.6.1905 München

Dem Wunsch der Familie folgend, studierte L. Medizin (Promotion 1843), wurde Assistenzarzt in München und 1846 Militärarzt in der bayerischen Armee.
1847 bereiste er Italien, war gegen seine Überzeugung 1848 an der Niederschlagung eines Aufstandes beteiligt, erlitt einen Nervenzusammenbruch und lebte 1849/50 in der Heilanstalt Winnenthal bei Cannstatt. Nach der Zwangspensionierung 1853 ließ er sich in München nieder, veröffentlichte mit Unterstützung Emanuel Geibels 1854 erstmals historische "Gedichte" (1854)
und erhielt ein kgl. Jahresgehalt. L. gehörte dem Münchner Dichterkreis und dem nach seinem Gedicht "Das Krokodil von Singapur" benannten literarischen Verein "Krokodil" an, versuchte sich auch als Dramatiker und Novellist, schrieb das Epos "Die Völkerwanderung" (3 Bde., 1866-68), das er als sein Hauptwerk betrachtete, sowie die Autobiographie "Meine Lebensreise" (1899).
1890 wurde er nobilitiert.

aus: Deutsche Biographische Enzyklopädie (Killy / Vierhaus, München 1999)