DIE LANGE AGNES

Ehe man auf der alten Straße von Viechtach nach Patersdorf ins "Oaholz" 1) kommt, hat man in einem hübschen Tälchen die Oa oder Weißbruck, welche über den Weißbach führt, zu überschreiten. Unter dieser Brücke trieb die lange Agnes ihr Wesen. Jeder, der zur Nachtzeit vorüber kam, wurde von ihr mit einem Strohriegel, 2) den sie ins eiskalte Wasser getaucht hatte, gehörig "azwogt", d.h. abgewaschen. Die Weißbruck stand daher auf weit und breit in üblem Rufe und jeder scheute den Weg dahin in der Dunkelheit. Eines schönen Tages hatte sich nun ein Hofgegner Bauer 3) am Viechtacher Ochsenmarkt zu lange verhalten und kam auf dem Heimwege in die Nacht. Bevor er aber von seiner "Einkehr", die alte Post, wegging, nahm er noch ein Weckl zu sich. "Für dö lang Angas!" 4) sagte er spöttisch. Als er bei der Weißbruck angelangt war, stand die lange Agnes leibhaftig vor ihm. "So iatzt hast da lang Angas a Weckl mitbracht!" schrie sie, fiel über ihn her und "zwogte" ihn so gründlich, daß er wie eine getaufte Maus am "Oahof" ankam.

1) Die zu Ayrhof, Bezirksamt Viechtach, gehörige und an die Ortschaft angrenzende Waldung.
2) Strohwisch.
3) Ein Bauer aus der (Ayr-)Hofgegend.
4) Das Volk spricht nämlich Angas für Agnes.


(In anderer Fassung)

Wenn man auf der alten Straße von Ayrhof nach Viechtach geht, so kommt man an der "weißen Bruck" vorbei. Es geht die Sage, daß, als einmal hier zwei Männer abends vorbeigingen, ein altes Weiblein unter der Brücke stand, zu dem der eine der beiden Männer sagte: "Ich bringe Dir einen Wecken mit!" während der andere sprach: "Ich laß mich von Dir "zwogn!" Als sie um Mitternacht wieder heimwärts gingen, war das Weiblein wieder an der Stelle und rief: "der erste soll heimgehen; der andere soll herunterkommen!" Der letztere ging der Weisung gemäß mit schlotternden Knien zum Weißbach hinab, während sein Begleiter geflügelten Schrittes seiner Behausung zustrebte. Am anderen Tage fand man an der Weißbrücke am Ufer des Baches eine Leiche. Das Weiblein war die lange Agnes oder "dö lang Angas", wie sich der Volksmund ausdrückt. Sie hat sich an dem Manne gerächt, der glaubte, sie im Vorübergehen necken zu müssen.

Michael Waltinger, Niederbayerische Sagen