DER STUMME ABT

Zu Fürstenzell stand einmal ein Abt an der Spitze des Klosters, der wohl alle Eigenschaften besaß, die einen Mönch zieren sollen, dem aber die Gabe der Rede versagt war. Seine Predigten waren eintönig und eindruckslos. Kein Mensch konnte sich daran erbauen. Als er wieder einmal dem Predigtstudium oblag, klopfte ihm jemand auf die Schulter. Es war der Teufel. Der versprach ihm, ihn zum gewiegtesten Kanzelredner zu machen, wenn er ihm seine Seele verschreibe. Der Abt willigte ein. Wie erstaunte alles bei der nächsten Predigt des Abtes! Nie hatte ein Mensch so gewaltig zu den Herzen seiner Zuhörer gesprochen, nie einer mit so begeisterten Worten in einem Gotteshause gelehrt. Aber als er Tag und die Stunde näher rückte, wann dem Satan die Seele des Abtes zufallen sollte, da wurde dem Abt angst und er rief den Himmel zu Hilfe und betete ohne Unterlaß. Schließlich berief er den Konvent zusammen und trug den Brüdern sein Anliegen vor. Nach langem Besinnen riet ihm der älteste der Mönche, er solle in der Stunde der Not in eine mit Weihwasser gefüllte Wanne steigen, während das ganze Kloster für ihn betete. Der Abt befolge den Rat und so ward er mit Leib und Seele gerettet; doch blieb er von der Stunde an stumm.

Michael Waltinger, Niederbayerische Sagen