DER DURCHSICHTIGE

In Frammelsberg, einem Weiler der Gemeinde Degernbach, wohnte in einem sogenannten Inhäusl ein altes Weib mit seinem kranken Manne und seinem einzigen Buben. Das Weib, von den Leuten die Kanabartlin genannt, war eine Wahrsagerin und Kartenschlägerin und konnte hexen und zaubern. Fast tagein, tagaus zog es im Bettel herum und der Junge begleitete es. Derselbe war aber auch der geeignetste Mitläufer; denn er besaß die Wundergabe, durch Bretter und Mauern zu sehen. Die Leute sagten fälschlich, er sei durchsichtig. Wenn die Kanabartlin vor einer Tür anklopfte, konnte ihr der Bub schon sagen, wo die Bäuerin das Brot, die Eier, das Fleisch usw. verwahrt hielt. Auf diese Weise war es der Alten möglich, gar oft einen saftigen Bissen ungesehen in ihrem Tragkorbe verschwinden zu lassen. Die Wundereigenschaft des Knaben war bald bekannt geworden und es ließen ihn sogar Ärzte kommen, um ihn bei einzelnen Patienten, die er durchschauen mußte, zu befragen, woran die Kranken litten. Als die Karmeliter von Straubing von ihm hörten, schickten sie zu ihm und versuchten, ihm den bösen Geist auszutreiben; denn nur ein solcher konnte nach ihrer Meinung in ihm stecken. Sie beeinträchtigten jedoch nur seine Gabe auf kurze Zeit; doch war der Junge von nun an nur mehr bei Neumond "durchsichtig".

Michael Waltinger, Niederbayerische Sagen