DAS OSSAFRÄULEIN

Auf dem Ossa stand vor urdenklicher Zeit eine stolze Ritterburg. Darinnen hauste lange ein edles Geschlecht, das endlich bis auf zwei Fräulein ausstarb. Das eine der Fräulein war schön und hold, das andere bleich und blind. Die schöne Maid war aber auch stolz und geizig, die blinde hingegen die Herzensgüte selbst. Ihre Eltern hatten ihnen Schätze von unermeßlichem Werte hinterlassen. Eines Tages gingen die beiden Schwestern daran, ihren Reichtum zu teilen. Das schöne Fräulein nahm einen Metzen, füllte ihn bis zum Rande mit Gold und schüttete ihn in ihre Truhe. Dann wendete sie das Maß um, bedeckte mit wenig Goldstücken die äußere Bodenfläche und sagte zur blinden Schwester: "reiche deine Hand her und fühle, ob dein Metzen voll ist!" So betrog sie die Schwester um den größten Teil ihres väterlichen Erbes.

Die Schwestern sind längst gestorben und von dem Schlosse liegt kein Stein mehr auf dem andern. Doch der Geist der Betrügerin hütet noch heute tief im Berge die Schätze, um die sie die Schwester betrogen. Einem Hirten ist sie eines Tages erschienen. Sie sprach zu ihm: "komme am Fronleichnamsfeste wieder hieher! Du wirst einen Schatz finden; aber fürchte dich nicht!" Der Hirte kam am Fronleichnamstage an die Stelle und sah dort, wo noch der Brunnen quillt, eine mächtige Kiste, auf der eine riesige Schlange mit einem Schlüssel im Maule lag. Erschrocken ergriff er die Flucht. Da sank der Schatz wieder in die Erde; das Ossafräulein aber wartet immer noch auf seine Erlösung.

Michael Waltinger, Niederbayerische Sagen