DAS MARTERL IM NEUBURGER WALDE

Eine Stunde von Fürstenzell in der Richtung gegen Sandbach befindet sich das aus zerstreuten Häusern bestehende Dorf Jägerwirth, das seinen Namen von einer früher abseits stehenden Diensthütte mit Bierschenke erhielt. 1) Wer von diesem Dorfe aus nach dem eine halbe Stunde entfernten Rehschaln wandert, bemerkt an der Straße, welche durch einen Ausläufer des bekannten Neuburger Waldes führt, links von einer Sandgrube ein altes, morsches Marterl. Nur undeutlich sind noch die bittenden armen Seelen zu erkennen. Wind und Wetter haben es arg mitgenommen. In dieses Marterl nun knüpft sich eine eigentümliche Sage, welche ihre Entstehung der Ehrfurcht des Volkes vor den Gaben Gottes verdankt.

Es war an einem der vielen Feiertage, welche das Landvolk noch im verflossenen Jahrhundert kannte, als sich eine zahlreiche, lustige Gesellschaft beim »Jägerwirth« versammelt hatte. Förster und Jäger, Burschen und Mädchen aus den Bauernhöfen und Dörfern der Umgegend hatten sich eingefunden, sprachen fleißig dem Kruge zu und da sich auch eine fidele Musik gefunden hatte, welche ihre fröhlichen Weisen ertönen ließ, so wurde der grüne Rasen vor dem Jägerwirtshause bald unter den Füßen der Tanzenden zerstampft und zertreten. Schon wurde es dunkel und noch hatten die Kehlen nicht genug des braunen Trankes. Aber ein schnell heraufgezogenes Gewitter brachte bald Schluß in das übermütige Leben und Treiben. Man flüchtete unter Dach und Fach und als Blitz und Donner allmählich verstummt waren, machte man sich auf den Heimweg. Nach allen Richtungen ging es auseinander, mancher schwankenden Schrittes ob des zu viel genossenen Bieres.

Auf der Straße nach Rehschaln schritten zwei Burschen und eine Dirne, die Kinder eines vermöglichen Bauern aus der Umgegend. Auch sie schienen nicht ganz nüchtern geblieben zu sein; denn ihre Gesänge waren mehr lärmend als melodisch. Just dort, wo heute das Marterl steht, brach das fahle Licht des Mondes durch die Tannenäste und erhellte eine über die ganze Straßenbreite sich erstreckende Pfütze. Die beiden Burschen stapften hindurch; aber die Schwester nahm in überlustiger Laune eine Semmel, die sie vom Wirte mitgenommen hatte und warf sie in die Mitte der Pfütze. Sie sollte ihr statt eines Steines zum Überspringen dienen, damit die Schuhe nicht schmutzig würden. Kaum war der Sprung auf das Brot getan, so war das Mädchen verschwunden. Der Erdboden hatte es verschlungen. Die beiden Brüder eilten leichenblaß, Angstschweiß auf der Stirne, nach Hause. Der Schrecken hatte ihre Zunge gelähmt. Sie vermochten kein Wort zu sprechen. Erst am anderen Tage waren sie imstande, das schauderhafte Begebnis zu erzählen.

1) Jägerwirth = Wirt der Jäger.

Michael Waltinger, Niederbayerische Sagen