Der Wilderer von Weibersbrunn

Weibersbrunn war früher eines der ärmsten Spessartdörfer. Die Bewohner, die großenteils im Walde arbeiteten, hatten nur kümmerlichen Verdienst, und nicht selten war bei ihnen der Hunger zu Gast, wenn sich die Leute auch noch so sehr plagten und abrackerten. So geschah es denn, dass manch einer auf verbotene Weise den mageren Tisch zu bereichern suchte, den Stutzen nahm und ohne Jagdschein in den Wald pirschen ging.

Ein Weibersbrunner hatte es schon öfters getan und war jedes Mal den Händen der spähenden Forstleute und Jäger entronnen. Das machte ihn immer kecker, und er lief dann fast täglich zum Wildern in den Forst.

Einmal schlich er wieder zwischen hohen Eichen und Buchen einer Waldwiese zu. Die lag vor einer dichten Buchenschonung, aus der das Wild zur Äsung auf die Wiese wechselte. Es war ein friedlicher Sommerabend. Leise strich der Wind über die Bäume hin. Die Wildtauben gurrten, Amseln sangen, und im Dorfe drüben läutete eine Glocke die Nacht ein. Der Wildbretsknappe hörte von alledem nichts. Hastig griff er in einen alten, hohlen Eichenstock, zog ein Gewehr heraus, das er darin versteckt hatte, und huschte begierig zur Lichtung hin. Wirklich, dort graste auf der Wiese ein Rudel Hochwild, und es waren ein paar stolze Hirsche darunter. Voll Leidenschaft hebt der Mann die Büchse, legt an und will abdrücken. Aber da schallt's ihm entgegen: "Abgelegt!" Der alte Forstwart von Weibersbrunn hat es gerufen. Überrascht stutzt der Wilderer, doch nur einen Augenblick. Dann kracht ein Doppelknall durch die Stille der Nacht, und der alte Forstwart stürzt ins Herz getroffen tot nieder. Gleichzeitig sinkt jedoch auch der Wilderer um und verröchelt nach kurzer Zeit. Die Seele des Wildbretsknappen konnte nach der Meinung der
Wäldler keine Ruhe finden, sondern muss in Sommernächten als Licht mit bläulichem Schimmer über die Wiese geistern. Kein Wanderer darf dem Flämmlein folgen, weil es ihn irreführt. Er gerät, wenn er dem Flämmchen nachgeht, in undurchdringliches Dickicht und braucht lange, bis er sich wieder auskennt und den richtigen Weg findet.

Quelle: Spessart-Sagen, Valentin Pfeifer, Aschaffenburg 1948, S. 63ff