Stadtprozelten

Die Deutschherren hatten im 14. Jahrhundert die starke Burg bei Prozelten erworben, und der damalige Großmeister Siegfried von Perchtwangen war von ihrer Lage und Schönheit so begeistert, dass er sie noch weiter ausbauen und befestigen ließ. Und er machte es allen künftigen Besitzern zur heiligen Pflicht, sie niemals verfallen zu lassen.

Nun war einmal eine Gräfin von Henneberg die Herrin des mächtigen Schlosses. Und weil sie ihren Gemahl verloren und keine Kinder hatte, fühlte sie sich trotz ihrer Dienerschaft sehr einsam, und es ward ihr in den weiten Räumen manchmal unheimlich zumute. Daher beschloss sie ihren Wohnsitz nach Stadtprozelten zu verlegen und tat dies auch eines Tages, indem sie mit all ihren Leuten die Burg verließ.

In der folgenden Nacht aber geschah es, dass die vielen Sääle der Burg hell erleuchtet waren, und der feuergrelle Schein durchdrang gespenstisch das Dunkel. Verwundert blickten die Leute von Prozelten zur Höhe hinauf und bestaunten das seltsame Licht, das sich auch in den weiteren Nächten zeigte. Mit dem zwölften Glockenschlage war es da und verblieb eine Stunde lang, bis die Turmuhr eins schlug; dann umhüllte wieder tiefes Dunkel den Berg und das Schloss. Als das eine Zeitlang so zugegangen war, stiegen mehrere furchtlose Männer gegen Mitternacht den Hang empor und warteten auf die zwölfte Stunde. Kaum hat die Glocke in Prozelten zwölf Schläge getan, da ist in der Burg wieder alles hell wie am Tag; doch in den öden Gemächern ist kein Leben zu sehen noch zu hören, und niemand vermag zu erklären, woher das geheimnisvolle Licht kommt, und man weiß jetzt nur, dass es kein Menschenwerk ist. Da erinnert man sich des alten Großmeisters und seines Vermächtnisses, nach welchem der Besitzer die Burg nicht verlassen sollte, da sie sonst dem Verfall preisgegeben wäre. Mit dem Wegzug der Gräfin war ja der erste Schritt zum Verfalle der Burg getan. Hatte die Gräfin aber schon früher nicht gern in der Burg gewohnt, mochte sie jetzt, wo es dort nicht geheuer war und Gespenster umgingen, erst recht nimmer darinnen sein, und sie überließ die Burg und alle damit verbundenen Güter dem schon vorher gestifteten Hospitale zu Stadtprozelten. Und sonderbar, jetzt hörten die Erscheinungen auf, und Elisabeth von Henneberg lebte ungestört zu Stadtprozelten von den Einkünften, die ihr aus anderen Besitzungen verblieben waren und die sie großenteils zu Werken der Wohltätigkeit verwendete. Noch lange nach ihrem Tode sprachen die Stadtprozeltener vom guten "Schloßfräle".

Mit dem Wegzuge der Gräfin begann der Verfall der Burg, wie es der Großmeister vorausgesagt hatte. Was die Zeit nicht vermochte, taten dann die Franzosen, die im Jahre 1688 den Feuerbrand hineinwarfen. So liegt also die Stadtprozeltener Burg in Trümmern; doch ist sie noch eine der besterhaltenen und sehenswertesten Schlossruinen im ganzen deutschen Land.

Quelle: Spessart-Sagen, Valentin Pfeifer, Aschaffenburg 1948, S. 167f