Das heilige Kreuz auf dem Sodenberg

Die erste Gemahlin Karls des Großen war eine Gräfin von Reineck. Die Geschichte nannte sie nicht, sondern bezeichnete sie nur als die "Unbekannte aus Franken". Sie war des großen Kaisers erste Liebe, und er blieb nach ihrem frühzeitigen Tode auch ihren Brüdern besonders zugetan. Er verlieh ihnen weite Besitzungen im Spessart und in anderen deutschen Gauen und erbaute ihnen auf einem steilen Hügel am Ufer der Sinn ein stattliches, überaus festes Schloss, das zunächst Reineck genannt wurde, hernach aber, gleich den Grafen, den Namen Rieneck annahm.

So kamen die Grafen von Rieneck schon in einer Zeit, da viele der später berühmt gewordenen Geschlechter kaum genannt wurden, zu großer Macht und hohem Ansehen. Sie vergaßen der Schwägerschaft des mächtigen Kaisers niemals und sahen voll Stolz auf andere Edle herab, denen das Schicksal ein bescheideneres Los zugewiesen hatte.

Diesen Stolz hatte jedoch der junge Graf Gerhard von Rieneck nicht. Er war ein echter Ritter, der sowohl im Kampfspiele als auch im ernsten Streite tapfer seinen Mann stellte, kühnen Mutes die Lanze schwang und von seinen Gegnern gefürchtet war. Aber wenn er den Panzer abgelegt hatte, war er nur der freundliche, anspruchslose Jüngling, der überall, wohin er kam, in den Hütten der Hirten und Köhler wie in den Burgen der benachbarten Edelleute gerne gesehen wurde. Droben im väterlichen Schloss verbot der Ahnenstolz eine ungezwungene Fröhlichkeit, da herrschte Ernst und steife Sitte, und der junge Graf stieg gar manchmal von der Burg herab, um Unterhaltung mit freundlichen, heiteren Menschen zu pflegen.

Eine kleine Strecke oberhalb Rienecks, da, wo sich die Aura in die Sinn ergießt, liegt Burgsinn. Die Edlen von Synna hatten dort schon im 9. Jahrhundert eine Burg erbaut. Im Jahre 1001, als das Geschlecht der Edlen von Synna ausgestorben war, erwarb sie der Ritter Hildof von Thüngen. Sein Geschlecht war alt und ruhmvoll wie das beste im Frankenlande. Dennoch hielten sich die Grafen von Rieneck für vornehmer, und die Herren von Thüngen mieden daher in gerechtem Unwillen die Grafen von Rieneck, so dass beide Familien kaum einen Verkehr miteinander hatten. Gerhard machte eine Ausnahme; er besuchte von Zeit zu Zeit Burgsinn und ward freundlich vom biederen Burgherrn, noch freundlicher aber von seiner liebenswürdigen Tochter Gisela aufgenommen. Gerhard bewarb sich bald um die Hand der schönen Gisela, und durch ihre vereinten Bitten ließ sich der alte Thüngen dazu bewegen, dass er, obwohl ungern, dem Bunde seinen Segen gab.

Bei dem eigenen Vater fand Gerhard kein so freundliches Gehör. Als er ihn um seine Einwilligung bat, erklärte der strenge Mann, dass er nie und nimmer die Vermählung seines Sohnes mit einer nicht ebenbürtigen Jungfrau zugeben werde. Gerhard solle, wenn er nicht den Zorn seines Vaters auf sich laden wolle, kein Wort mehr davon sprechen. Gerhard kannte seinen Vater zu gut, als dass er hoffen durfte, er werde anderen Sinnes werden. Mit tief betrübtem Herzen musste er seiner Braut und ihrem Vater mitteilen, welche ungünstige Aufnahme seine Bitte bei seinem Vater gefunden habe. Der alte Thüngen gehörte einem Geschlechte an, dem vom Volke der Gegend nicht mit Unrecht der Name "Die Wilden" gegeben ward. Er entbrannte wegen der ihm angetanen Schmach in heftigem Zorn gegen alle Rienecker und verbat sich sogar Gerhards ferneren Umgang mit seiner Tochter Gisela, und die Liebenden trennten sich voneinander fürs ganze Leben.

Der Kilianstein auf dem Sodenberg bei Hammelburg gehörte damals den Herren von Thüngen. Er war "Aller derer von Thüngen, So leben undt geboren werdten Gahn-Erben-Hauß". Dorthin führte der alte Thüngen seine Tochter Gisela, damit sie ohne Verbindung mit dem jungen Rienecker bliebe.

Gerhard nahm an einem Kreuzzuge teil, und nach Jahren gelangte die Kunde heim, dass er im Heiligen Lande bei der Erstürmung einer Feste unter den Ersten die Mauern erstiegen und dabei ruhmvoll gefallen sei.

Gisela ließ zum Gedenken an ihn unter den alten Buchen des Sodenberges ein steinernes Kreuz errichten und flehte hier zum Herrgott, er möge sie von der Erde fortnehmen, damit sie mit dem Treugeliebten vereint werde. Und ihre Bitte wurde erhört, denn sie starb bald darauf.

Das Kreuz, das im Jahre 1515 von Philipp von Thüngen erneuert wurde, stand bis in die jüngste Zeit und war unter dem Namen "des heiligen Kreuzes" ein Gegenstand besonderer Verehrung. Zahlreiche Wallfahrer suchten dort Zuflucht in ihrer Not, und keiner ging ohne Stärkung und Trost von dannen.

Was ist mit dem einst so mächtigen Geschlecht der Grafen von Rieneck geschehen? Es ist ausgestorben und vergangen. Auch die ehemals so stattliche Burg ist verfallen, und man erblickt nur noch die Trümmer vom Turm, dessen Mauern einige Meter dick waren.

Das Schloss zu Burgsinn hat sich in seiner altertümlichen Form erhalten und wird, wenn auch zum Teil verfallen, noch bewohnt.

Quelle: Spessart-Sagen, Valentin Pfeifer, Aschaffenburg 1948, S. 186ff