Die Riesenrippe

Noch vor etwa einem Jahrzehnt hing am Bergfried des Schlosses - über der Pflugschar - ein langes Knochenstück, das man als die Rippe eines Riesen bezeichnete. Davon wusste die Sage eine Deutung zu geben, die auch mit der Verlegung des Mainbettes in Beziehung steht.

Der große Kaiser Karl ritt einst von der Salzburg (an der Saale) durch den Spessart dem Maintale entgegen. Er war von zwei treuen Gefährten, dem gewaltigen Helden Roland und dem waffenkundigen Bischof Turpin, begleitet. Unterwegs vernahmen sie im dichten Forst ein Lärmen und Rufen wie bei einer eifrigen Jagd. Verwundert meinte der Kaiser, ob denn in seinem Bannwalde jemand verbotenerweise auf die Pirsch ginge. "Das ist niemand anders als der freche Riese Urgand, der in deinen Wäldern umherfrevelt", antwortete Roland grimmig, "wenn es dir recht ist, mein Fürst, werde ich dem Riesen sein unehrliches Handwerk legen. Schon bis morgen sollst du ihn bezwungen vor dir sehen." Doch Karl entgegnete, der Held möge diesmal noch einen Kampf vermeiden, da er seinen treuen Waffenkameraden nächstens im Streit wider zahlreiche andere Feinde benötige. Als nun der Kaiser im Jagdschlosse, das sich auf einem Hügel am Maintale erhob, angekommen war, ging er auf den Söller hinaus und schaute in die Runde. "Wie schön ist diese Gegend!" sagte er zu seinen zwei Getreuen, "wahrlich, hier kann's einem gefallen. Nur sollte eigentlich der Main, statt einige Meilen entfernt, am Grunde des Schlosses vorbeiströmen. Dann wäre der Ausblick noch herrlicher." "So werden wir dem Fluss ein neues Bett graben", meinte Roland, und er gab unverzüglich den Auftrag, eine mächtig große Pflugschar zu schmieden. Da begann ein Hämmern und Klingen, und aus den Essen sprühten die Funken, bis das Werk getan war. Hernach ließ er die Pflugschar im Tal aufstellen und etliche Pferde vorspannen, darunter auch sein eigenes starkes Pferd Bajard. Aber die Tiere mochten sich abmühen, wie sie wollten, sie brachten den schweren, tief in den Boden schneidenden Pflug nur ein kleines Stück vorwärts. Da half alsdann Roland selber mit, zog aus Leibeskraft und brachte den Pflug noch eine Strecke weiter. Doch die Anspannung aller Kräfte von Mensch und Tier reichte bei weitem nicht aus, ein Flußbett zu graben; es war ein vergebliches Beginnen. Indes sich die Leute und ihre Rosse nutzlos anstrengten, schallte droben vom Erbigberge verächtliches Gelächter ins Tal herunter. Der Riese Urgand spottete, weil niemand die Pflugschar vom Platz rücken konnte.

Jetzt kam dem klugen Turpin ein guter Gedanke. Er bat die anderen Männer, sich zu entfernen, Roland nicht ausgenommen. Der ging freilich nur widerwillig mit seinem schweißdampfenden Pferde zum Schloss hinan. Was aber tat Turpin? Er spannte gemächlich ein Ziegenböcklein und dann noch eines vor den Pflug, während der Riese vom Berge heruntersah. Voll Neugierde stieg er nun eilig herab und fragte, ob etwa die Geißen den großen Pflug ziehen sollten. "Ei", erwiderte Turpin, "du kannst ihn wohl ebenso wenig von der Stelle bringen." Bei diesen Worten kam der Riese in heftigen Zorn und bedrohte Turpin, so dass dieser geschwind die Ziegen ausspannte und auf die Burg entfloh. Der Riese spannte sich nun selbst vor, um seine Stärke zu zeigen und zog den Pflug mehrere Male das Tal auf und ab, im Bogen an der Burg vorüber. Bald war das neue Flussbett gegraben, und noch ehe der Morgen dämmerte, rauschten die Maineswogen am Fuße der Burg dahin. "Hört", schrie dann der Riese zum Jagdschloss empor, "jetzt werde ich ausruhen, und dann geht's an euer Schlösslein. Meine Fäuste sollen es packen und niederreißen. Und ihr Menschlein da drinnen seid alle des Todes." Da rief Turpin zu dem Unhold hinab, er möge sich nicht an unschuldigen Menschen vergreifen, das würde ihm selbst nur zum Unglück ausschlagen. Allein der Riese schwur, die Burg mit allem, was darin wäre, zu vernichten und zog sich nach der Drohung in seine Höhle zurück.

Roland, der Held, ließ sich nun nicht mehr länger halten. Ergrimmt gürtete er sein Schwert um und ritt voll Kampfesmut der Höhle des Riesen zu. Ihm zur Seite war sein Herr und Kaiser, der mit dem besten Waffenfreunde die Gefahr teilen wollte, und Turpin und andere Ritter folgten ihnen nach. Wie sie nun an die Höhle kamen und den Unhold anriefen, ward ihnen jedoch keine Antwort. Wiederholt riefen die Mannen den Unhold beim Namen. Keine Antwort hallte, kein Wutgeheul erscholl. Wie sonderbar! dachten die Ritter und traten in die Höhle. Da gewahrten sie Blutflecken, die weiter hinein immer größer wurden, und ganz im Innern der Höhle erblickten die erstaunten Reisigen eine abgenagte Rippe, die einige Ellen maß. Der riesenhafte Unhold, der ohne Erbarmen den Menschen ans Leben wollte, war im Schlafe von wilden Tieren angefallen und zerrissen worden. Die Rippe aber nahm man mit heim und bewahrte sie zum Gedenken auf.

Auch nach der Errichtung des neuen Schlosses unter Kurfürst Schweikard blieb die alte Riesenrippe erhalten und hing noch in den letzten Jahren am hohen Wehrturm, bis sie vermorscht und vom Zahne der Zeit zerfressen von selbst herunterfiel.

Quelle: Spessart-Sagen, Valentin Pfeifer, Aschaffenburg 1948, S. 8 - 11.