Die Kippenburg

In früherer Zeit stand auf dem Godelsberg ein Schloss, und darin hauste ein Graf von Kipp, dem alles gehörte, was man von den Zinnen der Burg überblicken konnte: Auen, Bäche und Wälder. Der Edelmann hatte auch sieben Söhne, von denen kämpften sechs im Morgenlande tapfer wider die Türken; nur der Jüngste blieb daheim, damit der Vater nicht gar zu einsam wäre. Der Graf wurde, wie es oft geht, in seinem Reichtum übermütig und stolz und sah verächtlich auf die Bürger- und Bauersleute herab. Deshalb wurde er im ganzen Umkreis gemieden, und jedermann ging ihm aus dem Weg. Als er aber einmal mit seinem jüngsten Sohn unter den Eichbäumen dahin schritt, die seine Burg umgaben, kam ein altes Weib auf ihn zu und bat um ein Almosen. "Fort, alemannische Hexe!", schrie der Graf und fügte hinzu: "Wage künftig nimmer, meinen Grund und Boden zu betreten!" - "Brot! Gib mir auf die Reise ein Stück Brot von dem Korn, das auf unseren Feldern wuchs", bat das Weib nochmals scheinbar demütig, aber mit einem Blick unterdrückten Hasses. Den Grafen übermannte der Zorn, und er schlug der Alten mit der Gerte ins Gesicht. "Du Unhold", rief nun die Frau und richtete sich empor, dass sie beinahe so hoch war wie der Reiter. "Du hast uns Wald und Feld und Vieh geraubt. So soll zur Strafe keiner deiner Söhne wiederkehren, und dein ganzes Geschlecht muss erlöschen. Nur ein Trümmerhaufen wird an der Stelle bleiben, wo sich deine räuberische Sippe festgenistet hat." Über diese Rede geriet der Graf außer sich vor Zorn; er trieb sein Ross geradenwegs auf die Frau zu, und es hätte sie zerstampft, wenn nicht der Sohn schnell die Zügel erfasst und das Pferd auf die Seite gelenkt hätte. Das Weib aber verschwand im Dickicht. Nach einer Zeit kam aus dem Morgenlande die Kunde, dass der Feldzug einen unglücklichen Verlauf nähme und die Kreuzfahrer in großer Not wären. Da machte sich der jüngste Sohn des Grafen auf die Suche nach den Brüdern und vernahm, dass sie im Kampfe gefallen waren. Er selber wurde verwundet und benutzte das erste Schiff nach Italien, um dort Heilung zu erlangen. Er wurde von einer edlen Frau und ihrer Tochter gastfreundlich beherbergt und gepflegt, bis er gesund in die deutsche Heimat zurückkehren konnte. Das römische Mädchen begleitete ihn, wurde seine Frau und zog mit auf die Kippenburg. Sie erhielten ein Töchterlein, das sie Emilia nannten. Das Kind hatte blaue Augen und blonde Haare wie sein Vater, und mit seinem guten Herzen glich es der Mutter.

Der alte Graf war durch den Verlust seiner Söhne grämlich und verbittert geworden, zog sich von den Menschen zurück und starb bald darauf.

Emilia mochte acht Jahre zählen, als sie einmal am Südhang des Godelsbergs Erdbeeren pflückte. Plötzlich stand das alemannische Weib vor ihr und sprach: "Schenke mir ein paar Beeren, meinen Durst zu stillen; ich kann keine pflücken, in meinem Alter ist das Bücken beschwerlich." Die erschrockene Emilia reichte zitternd das Körbchen hin. "Kennst du mich", fragte die Greisin, "weshalb zitterst du?" - "Ich sah dich noch nie", erwiderte zögernd das Mädchen, "doch hörte ich von dir erzählen. Du bist wohl dieselbe, die den Fluch über unser Geschlecht ausgesprochen hat!" - "Ja, so ist's. Deine Väter hatten uns misshandelt und getreten wie schlechtes Getier, und die ruchlosen Freveltaten forderten die Strafe des Himmels herab. Doch du bist ein unschuldiges Kind. Schau in diesen Spiegel!" Und bei diesen Worten hielt die greise Alemannin dem Kinde ein Spiegelglas vor. "Was erblickst du?" - "Ich sehe auf dem Berg eine kleine Ruine und nahe davon, drunten im Tal, einen Bauern, der hinterm Pfluge schreitet." - "Die Trümmer, die sich dir im Spiegel zeigen", entgegnete die Alte, "werden sich an der gleichen Stelle befinden, wo jetzt eure trutzige Kippenburg steht. Der Mann, den du erblickst, wird nämlich die vom Erdboden verschwundene Burg so weit errichten lassen, wie sie der Spiegel zeigt. Der Mann heißt Kipp wie ihr, allein er führt weder Helm noch Adelswappen. Und was siehst du noch?" - "Ich sehe eine Stadt mit vielen Häusern und Türmen und vorm Stadttore einen langen Trauerzug." Erwiderte die Alte: "Die Häuser und Türme sind die Stadt Aschaffenburg, vor deren Mauern der Bauer Kipp gewohnt hat. Gar manchen Armen hat der Bauersmann geholfen, und nun begleiten ihn zahlreiche Bürger zur letzten Ruhe!"

Zum dritten Mal fragte die Seherin: "Was zeigt der Spiegel?" Emilia fuhr zurück. "Ich sehe mich selbst", stammelte sie, "ich blicke im Spiegel aus dem Fenster der Ruine und winde einen Kranz aus Feldblumen." - "Du bist es nicht", entgegnete die Alte, "sondern es ist die Tochter eines späteren Besitzers; brav wie du und der Trost ihres Vaters."

Emilia glaubte zu träumen und wusste zunächst nicht mehr, ob sie im Spiegel nur ein Bild oder die Wirklichkeit gesehen hatte. Als sie sich recht besann, waren Weib und Spiegel verschwunden. Seit dieser Begebenheit sind Jahrhunderte vergangen. Und manch einer, der im Laufe der Zeit den Godelsberg zur "Kippenburg" emporgestiegen ist, will gesehen haben, dass eine junge weibliche Gestalt um das Turmzimmer der Burg wandelte.

Quelle: Spessart-Sagen, Valentin Pfeifer, Aschaffenburg 1948, S. 23 - 25.