Der Hirtenknabe

Auf einem Berge zwischen Eichel und Bettingen ragte einst die Wettenburg. Sie versank jedoch in einer Gewitternacht, und zwar soll das die Strafe gewesen sein für den frevelhaften Übermut der letzten Gräfin, einer Erbtochter von Waldburg. Von dem Schloss war nichts mehr übrig geblieben als eine schachtähnliche Öffnung, durch die man noch die verfallene Wendeltreppe des Hauptturms sehen konnte.

Einmal hüteten auf dem Berge zwei Hirtenbuben von Kreuzwertheim ihre Ziegen und gelangten dabei an den unheimlichen Schacht. Der eine Junge ließ sich an einem Seil in das Innere hinab, erreichte die Wendeltreppe und verschwand hinter der Krümmung. Sein Kamerad wartete lange, bis er wieder heraufkommen würde. Allein die Stunden gingen dahin, es wurde Mittag und Abend, und der Junge kehrte nicht zurück. Da trieb der andere die Ziegen heim und berichtete, was sich ereignet hatte. Die Eltern eilten noch spät abends hinaus und riefen in den Schacht hinab; doch vergebens. Der Knabe war und blieb verschwunden.

Erst nach sieben Jahren kam er wieder ans Tageslicht. Als er die Öffnung erreichte, rief er nach seinem Kameraden, den er noch in der Nähe glaubte. Weil er ihn nicht fand und auch die Ziegen nicht, begab er sich schließlich nach Hause. Wie erstaunte er jedoch, als er nach Kreuzwertheim kam! Da standen zwei neue Häuser mit ganz neuen Dächern, die er in der Frühe noch nicht gesehen hatte. Und als er ins Elternhaus kam, starrten ihn seine Angehörigen zunächst angstvoll an; denn er war ja ganze sieben Jahre fortgeblieben. Die Nachbarn liefen herbei, um den Heimgekehrten anzustaunen. Und immer wieder musste er alles haarklein erzählen, was er drunten im Berge erlebt hatte. "Ich bin", sagte er, "die Wendeltreppe hinab gestiegen und kam in einen schönen Saal, worin viele vornehme Herren und Frauen an langen Tischen saßen und speisten. Es ging fröhlich zu; im Nebenzimmer erklang Musik, und es wurde gesungen und getanzt wie bei einer Hochzeit. Als ich an einem der Tische vorüberging, sprach mich eine besonders vornehme Frau an, gab mir von den köstlichen Speisen und ließ mich aus ihrem Becher trinken. Es war im ganzen Schloss so hell wie am Tag, obgleich man nicht sah, woher das Licht kam. Nachdem ich mir alles betrachtet hatte, suchte ich wieder den Weg nach oben, traf die Wendeltreppe wieder und kam glücklich heraus. Nur meinte ich, es wären erst wenige Stunden verflossen, seitdem ich mich in den Schacht hinab gelassen hatte. Und jetzt höre ich, dass inzwischen sieben Jahre vergangen sind."

Es redete sich herum, was der Hirtenbub erzählt hatte. Der Wertheimer Stadtrat hörte auch davon und ließ die Öffnung mit einer großen, runden Steinplatte verschließen, damit ein weiteres Unglück verhütet würde. Mit der Zeit häufte sich Laub und Erde über dem Steindeckel, so dass dieser jetzt überhaupt nimmer zu finden ist.

Quelle: Spessart-Sagen, Valentin Pfeifer, Aschaffenburg 1948, S. 216f