Die Kartause Grünau

Eine Tochter des Grafen Poppo von Wertheim, namens Elisabeth, heiratete den Grafen Gottfried von Hohenlohe. Die beiden waren einander sehr zugetan und sannen in ihrer Liebe nur darauf, wie sie sich gegenseitig erfreuen könnten. Bisher war der Graf selten zu Hause geblieben, sondern war häufig nach den benachbarten Burgen ausgezogen, um ritterlichen Spielen zu huldigen. Oder auch, es trieb ihn der Jagdeifer zu fröhlichem Jagen in die weiten Wälder. Jetzt aber blieb er meistens daheim bei seinem jungen Weibe, weil es sich um ihn ängstigte, wenn er auswärts war. Und Elisabeth lernte aus Liebe zum Gemahl mit Pfeil und Bogen umzugehen und sicher im Sattel zu sitzen. Es währte nicht lange, so traf ihr Bolzen ins Ziel, wie es nur einem guten Schützen gelang, und bald scheute sie keinen Ritt auf ihrem Ross, das sie als Heiratsgut erhalten hatte.

Einst jagten die beiden im Spessartforst. Sie scheuchten einen Hirsch auf, einen mächtigen Zwölfender, und setzten ihm nach. In ihrem Jagdeifer kamen sie voneinander ab und verloren sich aus den Augen. Aber auch das prächtige Wild hatten sie nicht mehr; der Hirsch war ins Dickicht entkommen. Nach geraumer Zeit vernahm Elisabeth die Hufschläge eines Tieres. "Das wird der Hirsch sein!" dachte sie, und sie glaubte zu sehen, wenn auch undeutlich, wie er durchs Gehölz brach. Sie hob den Bogen, und schon schwirrte der Pfeil von der Sehne. Aber ach - ein fürchterliches Wehgeschrei dringt durch die Luft. In heißer Angst eilt Elisabeth hin und - da liegt ihr Gemahl todwund in seinem Blute. Ihr eigener Pfeil hatte ihn getroffen. Alles Jammern war vergebens. Graf Hohenlohe starb nächst dem Dörfchen Grünau in Elisabeths Armen, nachdem das Glück ihrer Ehe kaum zwei Jahre gedauert hatte.

Die Witwe lebte mehrere Jahre mit dem Schmerz um den lieben Verstorbenen. Allmählich vermochte die Zeit ihr Leid zu lindern, und sie stiftete alsdann an der Stelle, wo Gottfried seine Seele ausgehaucht hatte, die Kartause Neuzeil, welche nach dem nahen Dörfchen Grünau benannt wurde. Die Kartause, mit reichen Stiftungen bedacht, stand bis zum Eintritt der Glaubensspaltung in hoher Blüte. Hernach aber sank sie ab und im Jahre 1803 wurde das Kloster ganz aufgehoben.

Die Siedlung ist jetzt Eigentum des fürstlichen Hauses Löwenstein. Ein großer Teil der Klostergebäude ist niedergerissen, der Rest wird vom Gutspächter bewohnt. Die zerfallene Kartause Grünau, eingebettet zwischen hohen Bergen und auf zwei Seiten von fischreichen Seen umgeben, bietet in ihrer Waldabgeschiedenheit einen reizvollen Anblick, und mancher Spessartwanderer lenkt den Fuß in die einzigartig schöne Einsamkeit der Kartause Grünau.

Quelle: Spessart-Sagen, Valentin Pfeifer, Aschaffenburg 1948, S. 164f