Das Garnhecheln

In Heimbuchenthal wohnte eine Frau, die hatte selber kein Feld zu eigen; aber sie stahl von diesem und jenem Acker etwas Flachs und versteckte ihn im Schuppen. In der Heiligen Nacht wollte sie den Flachs hecheln; denn sie dachte: Da sind die anderen Leute fort in der Mette, so sieht mich keins bei der Arbeit, und mein Diebstahl kommt nicht an den Tag. Als nun am Heiligen Abend die Mitternachtsstunde heranrückte und die Nachbarn und übrigen Dorfbewohner in die Kirche zur Mette gingen, holte die Frau den Flachs hervor, stellte die Hechel auf und strich hastig die Halme zwischen den Stahlzinken hindurch. Wie sie so recht im Werke war, fuhr auf einmal bei sternklarem Himmel ein Wind ums Häuslein, als ob
die dickste Wetterwolke daherstürme, rüttelte an den Fensterläden, riss sie auf und die Fenster auch. Das Öllämpchen fiel vom Nagel, die Flamme sprang in den Flachs, und der verbrannte bis zum letzten Halm.

Die Frau aber war vor Schrecken ohnmächtig hingesunken und kam erst wieder zu sich, als das Feuer ihre Kleider ergriffen hatte.

Da schrie sie jämmerlich um Hilfe. Zum Glück hörten die Leute, die aus dem Gotteshaus von der mitternächtlichen Feierstunde zurückkehrten, das Geschrei und eilten der Frau zu Hilfe. Sonst wäre sie wohl des Todes gewesen.

Quelle: Spessart-Sagen, Valentin Pfeifer, Aschaffenburg 1948, S. 51f