Die ungleichen Brüder

Zu einem Amtmanne auf dem Wildensteiner Schloss, der einen bösen Ruf hatte, kamen einmal vorzeiten zwei Brüder, weither aus dem Schwabenlande gebürtig, die daheim weggegangen waren, um sich ein Unterkommen zu suchen. Der älteste hieß Rasmus und war ein Schreiber, der jüngste trug eine Geige mit sich und war ein Musikant. Doch nannte man ihn auch den Haubenschneider, vielleicht weil er das Handwerk gelernt hatte und darauf sich zu nähren pflegte.

Als der Amtmann nun lange genug sich mit ihnen besprochen hatte, nahm er Rasmus zu seinem Schreiber an und ward von Tag zu Tag mehr Freund mit ihm: denn der Rasmus war ein feiner Kopf, und der Amtmann merkte bald, dass er ihm zu seinen bösen Stücken wohl helfen könne. Den Musikanten konnte er zwar nicht brauchen, aber er hieß ihn auch dableiben: denn er hatte ihn gern um sich und ließ ihn manchmal ein Lied singen, um sich die bösen Gedanken zu vertreiben. Da wollte dieser auch einmal ein Kirchenlied singen, welches anfängt:

O wüster Sünder, denkst du nicht,
was dein verruchtes Leben
an jenem großen Weltgericht
für Lohn dir werde geben?

Darüber wurde der Amtmann so bös, dass er aufsprang und ihm die Geige zerschlagen wollte und ihn anfuhr, er solle nur gleich weitergehen und ihm niemals mehr vor die Augen kommen. Der Haubenschneider nahm seine Geige und seinen Stecken und ging auch alsbald, und sein Bruder Rasmus gab ihm das Geleite. Wie sie nun durch Wildenstein gekommen und aus dem Wald getreten waren, wo man unten im Tal die Hesselsmühle liegen sieht und links im Grund Eschau, nahmen sie voneinander Abschied, und der Haubenschneider sagte: "Rasmus, wir werden in dieser Welt einander nicht mehr sehen, aber einst, zu deinem Begräbnisse, werde ich kommen. Laß midi dann Gutes von dir hören. Du bist in ein gutes Haus gekommen und gerätst wieder auf deinen alten bösen Weg, was Gott verhüte!" Das ging dem Rasmus durchs Herz, und er gab seinem Bruder die Hand und weinte und versprach ihm alles Liebe und Gute - dann schieden sie.

Als der Rasmus aber von seinem Bruder getrennt war, war sein guter Engel von ihm gewichen, und bald hatte er sein Versprechen wieder vergessen. Durch den Amtmann kam er herunter nach Eschau und wurde zum Kornmesser gemacht. Nun tat er, was ihm wohl gefiel, hielt den Amtmann, die Herrschaft und die Untertanen ganz gleich - er betrog sie nämlich alle drei mit falschem Maß und wurde je länger je ärger. Es kamen teure Jahre, und in der ganzen Gegend wurden die Leute ihm schuldig. Aber da mochten die Schuldleute kommen, denen er in teuren Zeiten einen Vorschuss geleistet, und auf die Knie vor ihm fallen und um noch ein wenig Geduld betteln, er kannte kein Erbarmen: Er ließ ihnen die einzige Kuh aus dem Stall und das Hemd vom Leibe verkaufen und trieb sie fort ins Elend, und wenn sie meinten, es würden ihre und ihrer Kinder Tränen ihm noch auf der Seele brennen, so meinte er, die würden ablaufen wie das Regenwasser von einem Ziegeldach. Freunde hatte er keine, vielmehr die Leute seufzten und schrien wider ihn zu Gott, bis der sie endlich von ihm erlöste. In einer Nacht hörte man ihn fürchterlich schreien, bald im oberen, bald im unteren Stock, bald in der vorderen, bald in der hinteren Stube - am Morgen lag er tot im Bett, das ganze Gesicht blau unterlaufen. Beweint hat ihn niemand, bei seinem Begräbnis aber ist's seltsam zugegangen.

Wie nämlich der Pfarrer ihn eingesegnet hat und die Gemeinde anstimmt: "Nun lasst uns den Leib begraben", und man den Sarg ins Grab lässt, da kommt ein fremder Mann gegangen, drängt sich durch die Leute und wirft drei Handvoll Erde auf den Sarg und ist der einzige, der nasse Augen hat. Er war der Haubenschneider, der zu seines Bruders Begräbnis gekommen. Er war auch alt und grau geworden, aber er hatte noch seine Geige anhängen, gerade wie ehedem. Als das Grab fertig war, steckte er das Kreuz darauf und ging mit den Leuten zum Gottesacker hinaus. Er fragte nach, wie sich sein Bruder gehalten, aber da hörte er ein böses Gerücht. Das ging ihm durchs Herz, und wie er genug und übergenug gehört hatte, sagte er bloß: "Es ist also doch wahr!" ging rechts ab von den Leuten, hinüber zu dem Platz, wo er seinen Bruder noch einmal weichmütig gesehen hatte und mit einem guten Vorsatz, baute sich dort ein Häuschen und wohnte daselbst viele Jahre. Er war freundlich und dienstfertig zu jedermann, aber er sprach nicht viel mit den Leuten, sondern war immer allein; nur singen und spielen hörte man ihn jeden Morgen und Abend.
Einmal war er krank, und als er sich mehrere Tage gar nicht mehr hatte sehen lassen, hörte ihn eines Abends ein Mann, der mit Holz aus dem Walde kam und an seinem Häuschen ausruhte, gar beweglich singen:

Valet will ich dir geben, du arge, falsche Welt,
Dein sündlich böses Leben durchaus mir nicht gefällt.
Im Himmel ist gut wohnen, hinauf steht mein Begier.
Da wird Gott ewig lohnen dem, der ihm dient allhier.

Dem Holzbauer trat, während er ihn singen hörte, das Wasser in die Augen. Es war wohl sein letztes Lied gewesen. Tags darauf hat man ihn tot in seinem Bett gefunden. Das Gesangbuch war noch aufgeschlagen, aus dem er gebetet, das Öllämpchen war ausgebrannt, das Wasserkrüglein leer, und die Saiten auf der Geige zersprungen - er aber lag da wie schlafend.

Der Rasmus, sagt man, kann im Grabe keine Ruhe finden. Auf dem Speicher misst er oft ganze Nächte hindurch das Korn, kehrt zusammen und hebt die Säcke; am Morgen aber liegt alles wieder an seinem Ort. Einmal waren Leute auf dem Speicher und redeten von ihm, und einer rief: Rasmus, komm! Da stand er plötzlich da, und als sie eilends die Treppe hinunter sprangen, fiel der, welcher gerufen hatte, und brach das Bein. Auch in einem anderen Hause, wo er einen Fruchtboden hatte, musste er sein Wesen treiben. Der Mann im Hause hörte, wie er einfasste und abstrich und dabei in einem fort fragte: "Wo soll ich's denn hintragen, wo soll ich's hintragen?" Da fasste sich der Mann ein Herz und rief: "Trag's wieder hin, wo du's genommen hast!" Wie er das gesagt hatte, war alles still, und seitdem hat er sich nicht mehr im Hause hören lassen.

Seines Bruders Name wird hie und da auch noch manchmal genannt, wiewohl sein Häuschen verfallen und unter dem Heidekraut und Gebüsch, das jetzt dort wächst, wenig mehr davon zu sehen ist. Manche Leute nämlich, wenn sie spät in der Nacht den Wald herabgekommen sind über die Münzplatte, haben mit einem Male, als wenn's aus der Luft käme, eine Musik gehört von lauter Geigen, so hehr und lieblich, als wenn die Engel im Himmel selber die Spielleute wären. Rechtschaffenen Leuten kommt's Beten drüber an - wenn aber einer flucht, so lautet's, wie wenn eine Saite
zerreißt auf einer Geige, und die Musik hört auf.

Wo die Musik wohl herkommen mag? Die droben sind, mögen nicht mehr auf diese Welt, und die drunten - dürfen nicht; es ist aber so eine Rede geworden, wenn einer die Musik hört und fragt, wer denn die Geige spiele? dass man sagt: das tut der Haubenschneider.

Quelle: Spessart-Sagen, Valentin Pfeifer, Aschaffenburg 1948, S. 115ff