Der schwarze Riese im Tölzer Freithof

Vor 100 Jahren war es, da wollte der Gärtner Streidl von Tölz über den Freithof heim gehen, wie er es auch sonst zu jeder Nachtzeit tat. Auf einmal, wie er um die Ecke bei der Franziskanerkirche biegt, steht ein himmellanger schwarzer Mann vor ihm, als wenn er aus dem Grab gestiegen wäre, das daneben aufgemacht ist. Und die Kreuze leuchten ganz hell, wie wenn Totenlichter brennen. "Wo muß ich heute über Nacht bleiben?" fragt der große Fremde. "Meinetwegen wo du willst", sagt der Magistratsrat, "bloß bei mir nicht!" und zum ersten Mal kommt ihm der Schauer und es rinnt ihm eisschollenkalt über den Buckel, bis er die Gartentür hinter sich zugemacht hat. Wie er dann nochmal beim Fenster herausschaut, ist der Mann noch viel größer geworden.

*

Als der alte Karpfseer noch als Knecht am Sauersberg im Dienst stand, ging er einmal in der dicken Finsternis an der Franziskanerkirche vorbei. Wie er nun um die Freithofecke bog, sah er einen enzlangen Mann im schwarzen Rock mit großen, breiten Knöpfen vor der Kirchentüre stehen und neben ihm kniete ein Weiblein in vollster Andacht. In den Knecht fuhr der gähe Schrecken und er sagte zu dem Dirndl, das mit ihm ging: "Geh hin, mach du auf!" Da fing der Lange im tiefsten Baß an: "Mach nit auf, mach beileib nit auf!" Die zwei liefen davon, was sie konnten. Es war gerade Mitternacht.

Quelle: Sagen aus dem Isarwinkel, Willibald Schmidt, Bad Tölz, 1936, 1979;