Das lange Bein im Pestfriedhof

Die Waldherrn-Julie erzählte:

In meine Kinderjahre denke ich noch zurück, da gingen wir alle Tage zur Pestkapelle, wo damals der Gottesacker abgegraben und das Vorzeichen angebaut wurde. Immer wieder beschauten wir das lange Bein von einem Arm und konnten uns nicht genug wundern über das Geheimnis, daß dieser Arm jedesmal wieder auf seinem Grabhügel unter dem Kreuz lag, so oft und so tief er auch vom Mesner eingegraben wurde. Da kam uns immer eine frostige Gänsehaut, aber die Neugier war noch stärker. Viele Leute sagten: "Das ist ein Arm, der seine Eltern geschlagen hat." Etliche Weiber sprengten Weihbrunn darauf und beteten für die arme Seele. Unverhofft ist dann einmal das Bein verschwunden.

Das ist gewesen, wie der Siebziger Krieg war und ich in die Schule ging. Wir mußten damals in der Kriegszeit mit dem Lehrer Weber alle Sonntage in der Pestkapelle einen Rosenkranz beten.

Quelle: Sagen aus dem Isarwinkel, Willibald Schmidt, Bad Tölz, 1936, 1979;