Das geschnitzte Männlein

Am Riesenkopf, einem Nachbarn vom Wendelstein, war einmal eine Almhütte. Nach Feierabend sind dort drinnen drei Holzfäller beisammengehockt. Ihren Kukuruzbrei, ein Maismus, haben sie schon aufgegessen gehabt und sich nun ihre Pfeifen angezündet, um sich die Langeweile zu vertreiben, hat sich einer der Holzknechte ein Stück Holz hergenommen und hat angefangen zu schnitzen. Es hat gar nicht lange gedauert, da hat er ein Männlein fertig gehabt Die anderen zwei Mannsbilder haben sich gleich darangemacht, für die kleine Figur ein Gewand aus ein paar Sacktücheln zu machen. Das haben sie dann dem hölzernen Männchen angezogen.

Nun hat einer von ihnen bemerkt, daß in der Muspfanne noch ein Rest von dem Maisbrei drin gewesen ist. Er hat seinen Holzlöffel genommen und damit das Mus zusammengekratzt. Das gab ein paar Löffel voll, und die hat er zum Scherz dem Schnitzwerk seines Kameraden über den Mund gestrichen. Da hat doch tatsächlich das hölzerne Männlein den Mund aufgemacht und angefangen, den Brei zu essen.

Die drei Holzer sind fürchterlich erschrocken, daß sie eine Ganshaut bekommen haben. In seiner Angst hat einer das Männlein gepackt und zur Türe hinausgeschmissen. Weil es ja schon Zeit zum Schlafengehen war, haben sie sich ins Heu verkrochen. Es war ihnen gar nicht wohl zumute. Da sprang die Türe auf und das hölzerne Männlein ist zum Heuboden hereingeschlüpft. Es ist immer größer und größer geworden, bis es ein riesenhafter Kerl gewesen ist. Als der dann wieder den Mund aufgemacht hat, da kam aus seinem Hals eine dumpfe Stimme. Diese hat gesagt: "Den ersten find' ich, den zweiten wind' ich, den dritten werf ich übers Dach von der Alm."

Da hat der greuliche Bursche auch schon einen Holzknecht, der sich tief ins Heu eingegraben gehabt hat, am Kragen herausgezogen und hat ihn mit einem fürchterlichen Fausthieb totgeschlagen. Dann hat er den zweiten gepackt und hat ihm die Arme um den Hals gelegt, bis der erwürgt auf den Heuhaufen gesunken ist. Den dritten Holzknecht hat er dann wirklich vor die Tür gezerrt und ihn mit einem Schwung über das Hüttendach geschleudert. Mit zerschmetterten Gliedern ist der maustot vor der Alm liegengeblieben.

Quelle: Einmayr Max, Inntaler Sagen, Sagen und Geschichten aus dem Inntal zwischen Kaisergebirge und Wasserburg, Oberaudorf 1988, S. 116