Die drei Jungfrauen auf der Rachelwand

Vor urdenklichen Zeiten stand auf der Rachelwand bei Flintsbach ein Schloß. In diesem Schloß wohnten dazumal drei Jungfrauen. Von denen war die eine halb weiß und halb schwarz. Nie kamen sie ins Tal zu den Häusern des Dorfes herab. Man sah sie aber in mondhellen Nächten vor den Schloßmauern, denn dann hängten sie Wäsche auf zum Trocknen im Mondschein, wie es sonst die Leute bei Sonnenschein tun.

Die drei Fräulein, so wurde erzählt, hatten schreckliche Angst, daß sie mitsamt dem Schloß einmal versinken könnten, denn unten im Berg, tief in den Felsen des Rachelberges, soll ein großer See sein. Die Flintsbacher sagen, wenn er einmal durchbricht, dann wird das ganze Dorf weggeschwemmt werden.

Die drei Rachelfräulein bauten sich dann das Schloß Falkenstein. Dort fühlten sie sich sicher vor dem Versinken, denn dort gibt es keinen unterirdischen See. Ihr Rachelschloß verfiel und der Zahn der Zeit hat nur wenige Mauerreste übriggelassen, die nun auch längst von Moos, Gras und Gesträuch überwuchert sind. Aber um diese herum geistert eine schwarze Frau, und zwar in mondhellen Nächten. Sie ist mit einem schwarzen Mantel angetan und trägt auf dem Kopf eine große schwarze Haube als Zeichen ihres hohen Standes. Sie wird von einem schwarzen Hund mit feurigen Augen begleitet. Ab und zu kommt auch der schwarze Hund alleine. Manche Flintsbacher und Fischbacher haben auf der Rachelwand oben auch ein schwarzes Roß rumgrasen gesehen, sogar bei Tage.

Interessanter aber ist für die Leute im Tale, daß ein ebenfalls kohlschwarzer Pudel oft ums zerfallene Gemäuer herumstreicht, der einen großen Schlüssel im Maul trägt. Er bewacht einen Schatz, der tief im Berg in einer versperrten Höhle liegt, zu dem der Pudel eben den Schlüssel hat. Aber noch nie hat es jemand gewagt, ihm den Schlüssel zu entreißen, um so den Schatz zu gewinnen.

Wenn es ganz windstill ist um die Rachelfelsen, dann läßt sich oft aus dem Inneren des Schloßberges das Krähen eines Hahnes vernehmen.

Übrigens hängt der Name der Wand mit den drei Fräulein zusammen, denn er kommt vom mittelhochdeutschen "ragnon", was so viel wie herrschen, regieren heißt. Die drei Fräulein aber vom Rachelfelsen sollen die eigentlichen Herrscherinnen der Gegend gewesen sein.

Quelle: Einmayr Max, Inntaler Sagen, Sagen und Geschichten aus dem Inntal zwischen Kaisergebirge und Wasserburg, Oberaudorf 1988, S. 107