Kunigunde und die Äbtissin
Kunigunde hatte eine Nichte, Jutta geheißen, die war ihr vor allen lieb und wert, denn sie war eine gute und treue Seele. Diese machte sie zur Äbtissin eines von ihr gestifteten Klosters. Jutta gab anfänglich all ihren Ordensschwestern das schönste Beispiel der Demut, Frömmigkeit und Kasteiung, so dass die Kaiserin hoch erfreut war, eine so gute Wahl getroffen zu haben.
Es war aber noch keine feste, gleiche und beharrliche Tugend. Nach kurzer Zeit schlichen sich allerhand eitle und sinnliche Gedanken in das Herz der jugendlichen Äbtissin. Anstatt im Chorgebet die Erste und die Eifrigste zu sein, wusste sich Jutta unter manchem Vorwand von Sorgen und Hausgeschäften dem Dienst des Herrn zu entschlagen. Ihr ganzes Sinnen wurde irdisch und weltlich und auf die Eitelkeit der äußerlichen Dinge gerichtet.
Dies nahm die heilige Kunigunde mit betrübtem Herzen wahr; sie ermahnte die Leichtfertige mit guten und strengen Worten und suchte sie auf die Bahn der Pflicht zurückzuführen. Allein vergebens. Jutta lächelte über die Strafreden der Kaiserin und ging ihres Weges.
Eines Tages waren die Klosterfrauen zur Feier des Hochamts im Gotteshaus versammelt, nur Jutta fehlte mit einigen Ordensschwestern. Schon lange hatte sich Kunigunde nach der Äbtissin umgesehen. Jetzt entbrannte sie von heiligem Eifer und verließ eilenden Schrittes das Gotteshaus, die säumige Äbtissin im Kloster zu suchen. Jutta saß fröhlich mit einigen Ordensschwestern bei einem Imbiss in ihrer Zelle, als die Kaiserin flammenden Angesichts hereintrat. Ohne viel Worte zu machen, schritt sie auf die Pflichtvergessene zu und versetzte ihr mit der rechten Hand einen heftigen Backenstreich.
Jutta war wie vom Blitz getroffen. Schuldbewusst und reuig fiel sie der
Heiligen zu Füßen und bat um Verzeihung ob des gegebenen Ärgernisses.
Die fünf Finger der rechten Hand aber waren lange Zeit wie in Wachs
eingedrückt auf der Wange der Äbtissin erkennbar.
Quelle: Andreas Haupt, Die schönsten Bamberger
Sagen und Legenden, Bamberg 1877, neu herausgegeben von Gerhard Krischker
2002, S. 83 - 85.