152. Walserstreiche.
1.
Von der Schweiz sind die Walser ins Walsertal eingewandert, haben sich dort angesiedelt und gingen als fromme Leute alsbald daran auch eine Kirche zu bauen. Da aber ein Kirchenbau nicht alle Tage vorkommt, so wollte es der Zufall, daß die Maurerleute übersahen oder vergaßen, an dem Gebäude auch Fenster anzubringen. Solange sie nun an den vier Wänden arbeiteten, ging alles prächtig von statten; sobald aber das Dach aufgesetzt und alles wohl verschalt war, zeigte es sich, daß man im Innern nichts sehen konnte. Darob waren sie nun alle hoch erstaunt, konnten aber keiner herausbringen, worin der Fehler stecke. Betrachteten sie den Bau von außen, so war alles ganz hell und licht, daß man hätte den kleinsten Druck im Gebetbüchlein lesen können; kamen sie aber hinein, so war es wie verhext und alles stierdunkel. Da war nun große Not, und lange zerbrachen sie sich den Kopf, wie man doch dem leidigen Mißstand abhelfen und das Tageslicht hineinbringen könnte. Durch das viele Nachsinnen kam aber zuletzt doch einem ein glücklicher Einfall. "Machen wir es," sprach er triumphierend, "wie wir es bei den Brunnen mit so gutem Erfolg zu tun gewohnt sind! Schlagen wir in der Grundmauer einige Löcher durch und leiten wir dann in Deicheln das Tageslicht ein, das wir am besten auf der Heubergspitze fassen können, wo es recht hell und sonnig und auch am längsten Tag ist!" Dieser Vorschlag fand allseitig Beifall, und so deichelten die Walser die Tageshelle in ihr Gotteshaus.
2.
Später, als die Walser wohlhabender geworden waren, wurden sie der einfachen Blockhütten, in denen sie bisher gewohnt hatten, überdrüssig, und so begannen sie den Bau wohlgezimmerter, rechtmäßiger Häuser. Damit es ihnen aber dabei nicht mehr erginge wie beim Bau ihrer Kirche, waren sie jetzt wohlbedacht darauf rechtzeitig für Fenster vorzusorgen. Leider stellte sich aber dabei alsbald heraus, daß ihnen nicht recht klar war, wie sie es angehen sollten, Fensterlucken in die aus langen Balken gezimmerten Wände zu bekommen. Beim Mauern - so hielten sie dafür - wäre das leicht; die wohlbehauenen Balken aber, die sie eben erst auf die richtige Wandlänge zugemessen und zugerichtet hatten, wieder schändlich in Stücke zu schneiden, sei doch jammerschade und zudem mißlich, weil bei dem Auseinanderrücken der Teile es mit der Länge nicht mehr stimme und am Ecke dann ein Trumm vorstehen müßte, wie einer an einem Grashälmchen unwiderleglich vorgezeigt hätte. Anders aber wollte es nicht gehen, und so wußten sie lange gar nicht, wo aus und wo ein. Da kamen sie zuletzt überein, einer von ihnen solle hinaus nach Oberstdorf und solle auskundschaften, wie es die Oberstdorfer in solchen Fällen zu halten pflegten, und wählten hiezu den, den sie für den klügsten und scharfsinnigsten unter ihnen hielten.
Dieser machte sich in aller Gottesfrühe auf den Weg und kam schon in Oberstdorf an, als der Morgen kaum zu grauen begonnen hatte und noch alles schlief. Wie er nun in der Dämmerung so den untern Markt hinaufschritt, traf es sich zufällig, daß bei einem Hause ein Mann gerade einen Fensterladen aufstieß und den Kopf herausstreckte um nach dem Wetter zu schauen. Darob war der Walser gar hoch erstaunt; denn er kannte die Einrichtung der Fensterläden noch nicht, und weil diese sonst am ganzen Hause noch geschlossen waren, und er deshalb kein Fenster sehen konnte, so glaubte er nicht anders, als er habe hier ein neugebautes Haus vor sich, das noch keine Fenster besäße, und der Oberstdorfer habe soeben begonnen, mit dem Kopfe die Fensteröffnungen hinauszustoßen. "Aha!" dachte er sich, "auf diese Weise macht man das!" und eilte hocherfreut ob seiner neuen Entdeckung zurück ins Walsertal. "Den Vortel habe ich jetzt heraus 'kriegt," sprach er hier; "die Sache ist einfach; die Oberstdorfer bauen zuerst das Haus ganz fertig, und dann stoßen sie zuletzt die Fensterlucken mit dem Kopfe hinaus. Es geht das ganz leicht, denn ich habe es selbst gesehen. Machen wir es auch so!" Da bauten sie ihre Häuser alle der Reihe nach fertig, bedachten sie gehörig und gingen dann daran die Fensteröffnungen auszustoßen. Soviel man aber hernach hörte, sollen sie dabei doch nicht ganz zurecht gekommen sein; denn einer nach dem andern habe sich das Hirn eingerannt. Erst als neun Walserschädel zu schanden gekommen und zertrümmert waren, hätten sie von dem Unterfangen abgelassen und auf andere Mittel gesonnen.
3.
Als am Pfingstfeste einmal die Walser in voller Anzahl in der Kirche waren und der Priester eben von der Herabkunft des Heiligen Geistes in Gestalt einer Taube predigte und ihn auch auf die christlich Versammelten herabflehte, traf es sich, daß ein sich verirrender Vogel durch das offene Fenster - sie hatten inzwischen schon längst Fenster in ihrer Kirche - hereingeflogen kam und herumflatterte. Da glaubten sie nicht anders, als jetzt sei der Heilige Geist wirklich "abba chu" und besinne sich nur noch, auf wen von ihnen er sich herablassen wolle. Weil aber jeder sich seiner am meisten bedürftig hielt, wollte jeder auch seiner habhaft werden, und so geschah es, daß bald jeder ihn für sich gewaltsam einzufangen suchte, weshalb große Unordnung entstand. Sie warfen die Hüte oder die Schnupftücher nach ihm, sprangen ihm nach, ja einige machten sogar die Fahnen los und haschten nach ihm, wodurch der Vogel immer scheuer und wilder wurde. Da sie aber in der Aufregung vergaßen, das Fenster zu schließen, entwischte er ihnen zuletzt wieder durch dasselbe und fand das Freie. Die Walser aber ließen nun die Köpfe hängen, daß sie die günstige Gelegenheit nicht besser ausgenützt hatten, und halten seitdem die Kirchenfenster fleißig verschlossen.
4.
Die Walser beschlossen einmal eine Sägemühle zu bauen, daß
sie ihre Bretter selber schneiden könnten, und waren nur um den Bauplatz
unschlüssig. Damit nun keiner sagen könne, man habe die Sägemühle
aus Parteilichkeit diesem oder jenem allzu bequem hingestellt, wurden
sie eins, sie wollen sie auf die Schlappoldspitze bauen. Da habe keiner
ein besonderes Bene; auch sei es da "am freiesten", und wenn
die Schwaben zu ihrem Ärger schon von der Ferne sähen, daß
die Walser nun ihre eigene Mühle hätten, und auf sie nicht mehr
angewiesen wären, schade das auch nichts. Zwar hatten sie unsägliche
Mühe, all das Bauholz und sonstige Material den hohen, steilen Berg
hinauszuschaffen; aber sie hielten mit Ausdauer treu zusammen und trösteten
sich, daß sie die Mühe nur einmal hätten, und ohne Mühe
und Anstrengung sei noch nie etwas Rechtes zustande gekommen. So überwanden
sie alle Schwierigkeiten, und zuletzt stand der Bau fix und fertig da
und war alles, wie sich's gehört, eingerichtet. Als sie nun aber
eine Anzahl Sägeblöcke, die sie ebenfalls mit unsäglichen
Mühen hinaufgeschleppt hatten, zu Brettern schneiden und die Säge
probieren wollten, zeigte es sich, daß sie da droben kein Wasser
hatten, das ihnen das Mühlrad treibe. Sie waren nun freilich nicht
wenig in Verlegenheit und schauten einander verdutzt an. Was wollten sie
aber zuletzt anders machen, als den aufgeführten Bau wieder abbrechen,
daß sie ihn herunten bei einem Wasser aufstellen könnten? Bei
der mühsamen Herabschaffung des Balkenwerkes und der Sägblöcke
wollte es aber der Zufall, daß ihnen ein Block auskam und sogleich
zu drohlen anfing und dann mit größter Geschwindigkeit den
steilen Abhang hinabsprang. So etwas hatten die Walser nie gesehen, und
darum waren sie über die neue Entdeckung höchlichst verwundert
und erfreut, und einige riefen: Wie sind doch wir so ungeschickt gewesen,
daß wir uns so abgeplagt haben; die Blöcke springen ja von
selbst hinab! - Das können wir schon wieder gut machen, meinten die
Einsichtsvolleren, wir dürfen sie nur wieder heraufholen und dann
loslassen; und so machten sie sich daran, die so mühsam hinuntergeschleppten
Balken und Blöcke wieder hinaufzuschaffen und dann laufen zu lassen.
Dabei hatten sie eine unbändige Freude, daß die Blöcke
sich immer so lustig und flink umdrehten, flinker, als sie es mit ihren
Maiken bei einem Hopser oder Dreher vermochten. Nun hätten sie gern
gewußt, wie viele Drehungen wohl so ein Block mache, bis er hinabkomme
ins Tal; aber das herauszubringen schien ihnen nicht leicht und machte
ihnen viel Kopfzerbrechen. Zuletzt kamen sie aber doch auf einen guten
Einfall, und nun banden sie einen von ihnen, Namens Rochus, der Länge
nach mit Stricken an Füßen, Leib und Hals fest an einen Block.
Darauf ließen sie den Block los und zählten nun: Rochus eins,
Rochus zwei, Rochus drei und so weiter, so oft eben der Rochus bei den
Drehungen oben hinkam. Bald aber ging ihnen dies zu schnell, daß
sie mit Zählen nicht mehr nachkamen. Da riefen sie: Das macht nichts,
fragen wir den Rochus selbst! Der muß es am besten wissen, wie viele
Drehungen er gemacht hat. Nun gingen sie in das Tal hinab; aber als sie
zu dem Rochus am Blocke kamen und ihn fragen wollten, gab der kein Zeichen
mehr und war ganz verdätscht und vernudelt und maustot.
Quelle: Allgäuer
Sagen, Aus K. A. Reisers "Sagen, Gebräuche und Sprichwörter
des Allgäus" ausgewählt von Hulda Eggart, Kempten und München
1914, Nr. 152, S. 155 - 160.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Franziska Meister, März 2005.