168. Der gefundene Venedigerspiegel.
Vor vielen, vielen Jahren fand einmal ein Mann von Obermaiselstein unweit des Hirschsprunges einen gar sonderbaren Spiegel. Als er nämlich denselben vom Boden aufhob und bei der Besichtigung hineinblickte, sah er nicht etwa, wie es sonst bei jedem Spiegel der Fall ist, sich selbst, sondern er erblickte darin einen Bergabhang und eine Felswand und erkannte alsbald, daß diese letztere eine Wand in der Nähe des Hirschsprunges vorstelle. Das Merkwürdigste aber war, daß die Wand voller goldener und silberner Zapfen hing, die alle schimmerten und funkelten wie im Winter sonst etwa Eiszapfen, nur viel prächtiger und glänzender. Hoch oben an der Wand aber krabbelte, wie er deutlich sah, ein kleines Männlein herum, und war emsig beschäftigt, solch goldene Zapfen der Menge nach abzubrechen und einzustecken. Der Maiselsteiner konnte sich an alle dem kaum satt sehen und ahnte sicherlich nicht, daß der Spiegel, der ihm dies alles so klar und deutlich zeigte, ein Venedigerspiegel war, den das Männlein verloren haben mußte, und der Verborgenes und dem gewöhnlichen Menschenauge Entrücktes oder Verhülltes sichtbar macht und besonders auch alle Schätze in der Erde zeigt.
Es dauerte indes nicht lange, so merkte das Männlein, daß es durch den Spiegel beobachtet werde, und wurde nun ganz aufgeregt, fing an zu zappeln und ängstlich zu jammern, schätzwohl, weil es den Spiegel in unrechten Händen sah und verloren glaubte. Es klagte gar rührend, daß es nun verraten sei, und flehte inständigst zu dem Manne, er solle doch seinen Fund wegwerfen, sonst sei es verloren, könne sich nicht mehr an der Wand droben halten und müsse herabstürzen und zu Tode fallen. Gerne wolle es ihm zur Belohnung von seinen Schätzen mitteilen. Da hatte der Mann mit dem geängstigten und so flehentlich bittenden Wichte Mitleid und warf den Spiegel weg. Sogleich war aber auch alle Enthüllung aufgehoben, alle Pracht verschwunden, und die Felswände ragten wieder kahl und grau empor wie sonst. Er hätte darum alles für einen Traum halten können, wenn nicht das Männle jetzt leibhaftig vor ihm gestanden wäre und mit ihm zu reden begonnen hätte. Da fragte er es aus, woher es sei, und dies und das, und erfuhr nun von ihm, daß es aus Venedig gekommen. Es übergab ihm hierauf als versprochene Belohnung einen zapfenförmigen Goldklumpen, der prächtig funkelte und des Maiselsteiners höchste Freude hervorrief. Während er ihn indes näher betrachtete, verschwand das Männlein unversehens. Der Beschenkte aber wickelte den Zapfen in sein Sacktuch und kehrte heimwärts und schmiedete unterwegs gar viele Pläne, wie ihm nun aus aller Not geholfen sei, wie er die Schulden bezahlen, Felder und Vieh kaufen könne, und wie reich er nun sei. Zu Hause war sein erstes, daß er vor Weib und Kind den erhaltenen Schatz herauswickelte; aber o weh! Der Klumpen glänzte und funkelte nicht mehr, sondern war ganz schwarz und unansehnlich geworden. Da ward der Bauer traurig und betrübt und wußte sich gar nicht zu enträtseln, wie das so gekommen sei. Er bereute nun, daß er das Männle nicht besser ausgefragt habe, wie man das trügerische Metall behandeln müsse. Da er mit dem Klumpen nichts anzufangen wußte, entschloß er sich, selber nach Venedig zu reisen, dort das Männchen aufzusuchen und bei ihm sich Rats zu erholen. Er wickelte das Geschenk ein, begab sich auf die Reise und kam endlich nach langer Wanderung in Venedig an. Die Stadt war schön und groß, daß er nicht genug staunen konnte, und wie er so durch eine Straße dahinschlenderte, stand mit einem Male das bekannte Männchen neben ihm, klopfte ihm auf die Schulter, grüßte ihn überaus freundlich und fragte erstaunt, wie er denn bis hieher gekommen sei, und was für Geschäfte er denn in Venedig habe. Da klagte ihm der Bauer seine Not und erzählte, wie es ihm mit dem Goldklumpen ergangen sei, und daß er sich darauf vorgenommen habe, er wolle es aufsuchen und es um Rat oder Hilfe bitten. Da lächelte das Venediger Männle, ließ sich den schwarz und unansehnlich aussehenden Zapfen zeigen, strich mit der flachen Hand darüber hin, und siehe da, nun war er wieder eitel Gold und funkelte wieder wie zuerst! Überglücklich darüber bedankte sich nun der Bauer und wollte sogleich wieder die Heimreise antreten; allein das Männle ließ das nicht zu, sondern sagte, erst müsse er sich doch die Stadt noch ordentlich ansehen und müsse mit ihm in sein Haus kommen und einige Zeit bei ihm wohnen und sein Gast sein. Da kam er in einen großmächtigen Palast, wurde mit Speisen und Trank gar köstlich bewirtet, und das Männle war ungemein freundlich und liebevoll gegen ihn, zeigte ihm alle seine Habe, so daß der einfache Maiselsteiner ob der vielen Reichtümer und Pracht nicht genug sehen und staunen konnte und eins ums anderemal rief: "Wenn nur meine Alte auch gerade da wäre und all die Schönheit sehen könnte!" Da erkundigte sich das Venediger Männle nach deren Befinden und sagte, ob er nicht gerne wissen möchte, was sie zu Hause jetzt gerade treibe; wenn er es wünsche, könne es ihm das genau sagen und es ihn sogar selber sehen lassen. "Ei, freilich möchte ich das gerne sehen!" sprach nun der Bauer, und da ging das Männle in ein Nebenzimmer und brachte einen Spiegel, den der erstere sofort als jenen erkannte, den er ja beim Hirschsprunge gefunden und dann auf des Männchens Drängen wieder weggeworfen hatte. Er mußte nun in diesen Spiegel hineinblicken, und da sah er klar und deutlich sein Heimathaus in Maiselstein und die Stube und sein Weib, wie es bei der Wiege saß und dem kleinen Kinde gerade Mus zu essen gab.
Der Bauer hatte darob große Freude, nahm dann Abschied von dem
Männle und eilte nach Hause, wo er wohl die früheren Pläne
alsdann verwirklicht haben wird.
Quelle: Allgäuer
Sagen, Aus K. A. Reisers "Sagen, Gebräuche und Sprichwörter
des Allgäus" ausgewählt von Hulda Eggart, Kempten und München
1914, Nr. 168, S. 176 - 179.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Franziska Meister, März 2005.