161. Das Goldbrünnelein und das Venedigermännle.
In der Razer Alpe, die nach Reutte gehört, ist eine Quelle, aus
der zu einer bestimmten Stund und Minute pures Gold fließt, und
wer diese wüßte, der könnte mit einem Schlag reich werden.
Dahin kamen aber auch oftermalen Venedigermännle und holten sich
von dem Golde, denn sie kannten genau die Stelle und den rechten Augenblick
und brauchten dann nur zu schöpfen. So traf es sich auch einmal,
daß von der Alphütte aus zu dieser Zeit zufällig eine
Magd zu dem Brünnelein kam um da Wasser zu holen. Da sah sie an demselben
ein kleines Männle mit großem breitkrämpigem Hut; das
war kaum tischhoch und war emsig beschäftigt, mit einem kleinen Metzlein
aus dem Brünnelein zu schöpfen. Die Dirne fürchtete sich
vor dem sonderbaren fremden Männle und hatte fast nicht das Herz
näher zu treten; allein da sie ohne Wasser nicht in die Hütte
zurückkehren durfte, so wagte sie es zuletzt doch und ging näher
hin. Da war das Männle gegen sie gar nicht böse, redete sie
freundlich an und fragte sie sogar, ob sie nicht auch von dem Dinge da
etwas möchte, das es gerade herausgeschöpft habe. "Ei,
ja wohl!" Und da gab ihr das Männle einen Brocken davon. Wie
sie nun zur Hütte zurückgekehrt war, fand es sich, daß
der Brocken reines, lauteres Gold sei, und nun mußte die Magd alles
erzählen. Allein das Gold macht gierig und unzufrieden, und so fuhr
der Bauer die Dirne wild an und sprach zornig: "O du dummer Teufel!
Warum hast du dir nicht mehr davon geben lassen? Gleich gehst du hinaus
und holst mehr!" Als aber die Magd wieder zum Brünnelein kam,
war das Männle nicht mehr da; das Wässerlein floß wie
immer, und nirgend war irgend eine Spur von Gold mehr vorhanden.
Quelle: Allgäuer
Sagen, Aus K. A. Reisers "Sagen, Gebräuche und Sprichwörter
des Allgäus" ausgewählt von Hulda Eggart, Kempten und München
1914, Nr. 161, S. 168 - 169.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Franziska Meister, März 2005.