254. Der Rechenkünstler.
In Engeshausen lebte einst ein Mann, Namens Dietl; der war ein Rechner, wie es weit und breit keinen zweiten gab. Er konnte alles, was man nur haben wollte, ausrechnen. Hatte man zum Beispiel irgendwo etwas gestohlen, so konnte er herausrechnen, wo das Gestohlene sei, und zu welcher Stunde es gestohlen wurde. Als einmal im Graf Fuggerschen Hause in Babenhausen aus der Kasse 2200 fl. (Abk. für Florin = Gulden) entwendet worden waren, schickte man gleich zum Dietl, er möchte rechnen, wo das Geld liege. Da machte er sich daran und erklärte dann, das Geld sei noch gar nicht aus dem Hause gekommen; man solle nur suchen. Als man aber trotz des Suchens nichts fand, schickte man nochmals zu ihm, daß er noch weiter rechnen solle, und nun brachte er heraus, wer es gestohlen hatte, und daß es da und da versteckt sei, man dürfe es nur nehmen. Richtig war es so; man bekam die Summe wieder, zog den Dieb ein, und der gestand auch.
Später drangen dann einige in ihn, er solle einmal ausrechnen, ob es noch irgendwo einen zweiten Rechenkünstler gebe, der ihm "im Rechnen Herr sei". Da rechnete er lange und den ganzen Stubenboden samt dem Hausgange voll an und brachte heraus, daß es freilich noch einen zweiten gebe, aber der sei weit drin in Italien in der Nähe von Rom, Er rechnete sogar heraus, wie er sich schreibe, wie alt er sei, und nun schrieb man zur Probe einen Brief unter dieser Adresse. Auch damit hatte alles seine Richtigkeit, und nun rechnete der in Italien "retour heraus", wie alt der Dietl sei und wie und was, und alles war richtig.
So groß nun aber auch ihre Rechenkunst war, das konnten sie doch
nicht ausrechnen, welche Nummern in der Lotterie gewinnen werden; hier
ließ ihre Kunst sie im Stich.
Quelle: Allgäuer Sagen, Aus K. A. Reisers
"Sagen, Gebräuche und Sprichwörter des Allgäus"
ausgewählt von Hulda Eggart, Kempten und München 1914, Nr. 254,
S. 263f.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Franziska Meister, Februar 2005.