166. Das Nachtvolk verschmauset eine Kuh.

In ein Haus auf dem vordern Boden im Walsertal kam einmal an einem Marienfeste am hellen Tage während des nachmittägigen Gottesdienstes das Nachtvolk. Es war niemand zu Hause als die "Gogen", das sind die Kinder des Bauern, die allein "gämmten". Das Nachtvolk machte es sich da nun allsogleich bequem, holte die schönste Kuh vom Stall herein und fing an, diese zu schlachten und ihr die Haut abzuziehen, und machte sich viel Geschäft, zu sieden und zu braten, und verzehrte sie dann "unter Tanzen und Springen, Singen und Jauchzen und unter dem angenehmsten Trommel- und Saitengespiel", Es gab nun auch den Kindern gar "niedlich" zu essen, verbot ihnen aber, "ein Bein (Knochen) zu zernagen oder zu verlieren." Zuletzt suchten sie die Knochen sorgsam zusammen, konnten nun aber trotz allen Fleißes einen nicht mehr finden. Da wickelten sie die übrigen in die Haut und sagten, sie müßten die Kuh gleichwohl hinken lassen, was sich in der Tat so befand; denn als die Leute aus der Kirche heimkamen, stand dieselbe im Stalle an ihrem Orte und war so brauchbar als zuvor, nur daß sie ein wenig hinkte und einen Fuß etwas nachschleppte.

Da das Nachtvolk auch sonst im Walsertal groß Aufsehen machte und gewöhnlich mit gar zierlicher Musik angezogen kam, so ging ein Liebhaber der Musik, als er es einmal kommen hörte, ihm auf den Brunnenberg nach, versteckte sich in der Hütte unter das Dach und horchte hier auf seine Musik und schaute seinem Tanze und Spiel die ganze Nacht hindurch zu. Gegen Morgen machte sich nun eines nach dem andern davon, und der letzte steckte noch, wie dem Zuschauer deuchte, ein Messer oben in den Türpfosten der Tanzhütte. In Wirklichkeit aber ging das Messer dem Fürwitzigen in ein Knie und konnte von niemandem mehr ausgezogen werden, so daß der Unglückliche es beständig an seinem Fuße herumtragen mußte, jedoch ohne Wehtag. Da riet man ihm, er solle sich übers Jahr genau zur nämlichen Zeit wieder unter den Dachboden begeben, und als er das tat, kam wirklich die "Versammlung" wieder, und er vermerkte nun, daß gerade so wie im Vorjahr das lustige Volk zechte und mutig tanzte und sprang und musizierte. Mit Anbruch der Morgenröte aber marschierte es pünktlich wieder ab, nur daß der letzte über die Tür langte und sagte: "Ich will doch meinen Schnitzer wieder mitnehmen, den ich vor einem Jahr da hinaufgesteckt habe." Da war dem Manne das Messer aus dem Knie verschwunden, und er konnte genesen nach Hause zurückkehren.

Quelle: Allgäuer Sagen, Aus K. A. Reisers "Sagen, Gebräuche und Sprichwörter des Allgäus" ausgewählt von Hulda Eggart, Kempten und München 1914, Nr. 166, S. 173 - 174.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Franziska Meister, März 2005.