6. Bestrafter Frevel bei einer Totenwache.

Mit dem Tode und allem, was dran und drum ist, soll man nie Frevel und Scherz treiben. War einmal in einem Hause ein Sterbefall eingetreten, und die vier nächsten Nachbarn hielten, wie es Brauch war, die Totenwache. Unter ihnen war aber einer, der die Toten so überaus fürchtete, daß ihn die andern darüber viel verspotteten und verlachten und zuletzt auf den unüberlegten Einfall kamen, seine Furchtsamkeit und Scheu vor den Toten zu einem einfältigen Spaß zu benützen und ihm einen Streich zu spielen. Sie nahmen zu diesem Zwecke heimlich den Leichnam vom Totenlager herab, und nun legte sich einer von ihnen an dessen Stelle und ließ sich mit dem Leintuch zudecken. Sobald "der Fürchter", machten sie aus, an das Totenlager heranträte, sollte der unter dem Leinen anfangen sich zu rühren, damit jener recht erschrecke und entsetzt davonlaufe, und dann hätten sie ihn recht auslachen und aufziehen wollen. Wie sie es nun gemacht hatten, schickten sie nach einer Weile, daß es nicht auffiel, den Furchtsamen hinaus ins Gaden, er möchte doch die Lichter putzen und nachsehen, ob alles in Ordnung sei, waren aber gefaßt, er werde jeden Augenblick voll Entsetzen hereingesprungen kommen und melden, der Tote bewege sich. Allein nichts von dem geschah; der Mann kam vielmehr nach einiger Zeit ganz ruhig aus dem Gaden herein und ließ nicht im mindesten erkennen, als hätte er etwas Auffallendes bemerkt. Da meinten die andern, der draußen habe seine Sache schlecht gemacht, und schickten ihn nochmals hinaus; aber wieder kam er herein ohne die mindeste Erregung und sagte, es sei alles in Ordnung. Jetzt stieg den Frevelnden eine schreckliche Ahnung auf, und sie liefen hinaus um selber nachzusehen. Da lag der Mann, der den erwachenden Toten hätte spielen sollen, wirklich tot auf dem Lager, zum Entsetzen und Jammer aller. Alle Reue kam nun zu spät, und anstatt einer Leiche hatte man jetzt deren zwei im Hause.

Quelle: Allgäuer Sagen, Aus K. A. Reisers "Sagen, Gebräuche und Sprichwörter des Allgäus" ausgewählt von Hulda Eggart, Kempten und München 1914, Nr. 6, S. 11 - 12.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Franziska Meister, Februar 2005.