252. Der Erdspiegel.

In Steinbach bei Legau lebte zu Anfang dieses Jahrhunderts ein alter Landarzt, der einen "Erdspiegel" besaß, in dem er alles sehen konnte, was er wollte, und was sich irgendwo zugetragen hatte, und der darum großen Zulauf hatte. Da geschah es einmal, daß in einem einige Stunden entfernten Orte bei einem Bauern ein Stück Vieh so arg am Fuße blutete, daß niemand das Blut stillen konnte. In aller Eile schickte man nun einen Buben zum alten Riegger, - so hieß der Mann -, daß er helfe. Da der Junge aber nicht sagen konnte, ob das blutende Stück Vieh eine Kuh oder ein Kalbel sei, wie es aussehe usw., was der Wunderdoktor alles hätte wissen wollen, so wurde er zornig und "schimpfte den Burschen gottsjämmerlich her". Dann aber ging er in das Nebenzimmer, sah in seinen Spiegel, kam nach einer Weile wieder herein und sagte: "Ein gelbes Rind ist es, das von der Tür am dritten Stand steht; die Magd hat es mit der Gabel gestochen. Geh nur heim, das Bluten hat jetzt schon aufgehört." All diese Angaben stimmten aufs Haar.


Quelle: Allgäuer Sagen, Aus K. A. Reisers "Sagen, Gebräuche und Sprichwörter des Allgäus" ausgewählt von Hulda Eggart, Kempten und München 1914, Nr. 252, S. 261f.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Franziska Meister, Februar 2005.