129. Drache von einem Venediger-Männle "ausgeführt".
Nach Bolsterlang kam in alten Zeiten oft ein kleines Männle aus
Venedig und blieb dann gewöhnlich in einem dortigen Hause übernacht.
Es trug beständig einen Spiegel bei sich, und wenn man in denselben
blickte, sah man jede Stelle, wo irgend ein Schatz verborgen lag. Als
es einmal wieder da war, gewährte es mehreren die Gunst, auch in
den Spiegel sehen zu dürfen, und da sah man drei Schätze: einen
bei Maiselstein, einen in Sonderdorf und einen auf dem "Spek",
einem Hügel bei Bolsterlang. Das Männle aber hatte diesmal anderes
vor als Schätze zu heben; denn es sagte, es müsse zum G'säßtobel
oberhalb Sigiswang und sich an den Drachen machen. Damals hauste nämlich
noch dort ein greulicher Drache, welcher der Schrecken der ganzen Umgegend
war und viel Unheil anrichtete. Wenn es ihm gelinge, meinte das Venedigermännle,
diesen Drachen "auszuführen", so sei es für sein ganzes
Leben reich genug. Es werde mittags um 12 Uhr an das Wagnis gehen, und
wenn alles glücklich von statten gehe, wolle es ein Zeichen geben.
Zu dieser Stunde entstand nun ein fürchterliches Wetter, wie man
noch nie ein solches erlebte. Es blitzte und donnerte, stürmte und
tobte so arg, als müsse ganz Sigiswang untergehen. Dann aber ließ
das Gewitter nach, und als Zeichen des glücklichen Gelingens sah
man eine Erscheinung, wie wenn etwas durch die Lüfte ziehe und man
eine Hand davon sähe. Das Männchen kam von da an nicht mehr,
aber des unheilvollen Drachen war man los geworden.
Quelle: Allgäuer
Sagen, Aus K. A. Reisers "Sagen, Gebräuche und Sprichwörter
des Allgäus" ausgewählt von Hulda Eggart, Kempten und München
1914, Nr. 129, S. 132 - 133.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Franziska Meister, März 2005.