Die Dohle mit dem Ringe

In der Residenzgasse, gegenüber dem Hauptpostgebäude ist die Franziskanerbäckerei. Auf einem Dachfenster des Hauses ist aus dauerhaftem Eisenblech eine Dohle angebracht, die einen Ring im Schnabel trägt. Was die bedeuten soll, ist folgendes:

Vor langer Zeit wohnte hier der fürstliche Hofrat Lander. Einst hatte dessen Frau ihren kostbaren Ring auf den Fenstersims gelegt und war auf wenig Augenblicke weggegangen. Als sie zurückkehrte, war der teure Ring verschwunden und alles Suchen war umsonst. Weil aber niemand ins Zimmer gekommen war als die Dienstmagd, so vermaß man sich zuletzt, diese als Diebin zu beschuldigen und in sie zu dringen, sie solle ihren Diebstahl nicht länger leugnen und den Ring herausgeben. Die Magd aber blieb fest, daß sie ein ehrliches Mädchen sei und von dem Ring nichts wisse. Da ward sie ins Gefängnis abgeführt und dort auf der Folter so lange malträtiert, bis sie ein Geständnis machte. Der gestreng Rat verurteilte sie zum Tode und ließ dieses Urteil auch bald vollstrecken. Später aber zeigte sich, daß eine Dohle den Ring hinweggenommen und in ihr Nest im Dach des Nachbarhauses getragen hatte. Da ward freilich großes Bedauern wach, aber die Maid blieb tot; den Vogel jedoch ließ man im Konterfei aufs Fenster ihres Stübchens setzen.

Quelle: Nach Mayer und Trautmann.
Altbayerische Sagen, Ausgewählt vom Jugendschriften-Ausschuss des Bezirkslehrervereins München, München 1906.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Norbert Steinwendner, Dezember 2013. 
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