Der Geist der Gunzoburg

In der Oberstadt Überlingens, dem sogenannten Dorf, steht ein altes Haus, welches die Burg heißt; denn der Alemannenherzog Gunzo soll hier gewohnt haben. Überlingen (Iburinga) war nämlich ursprünglich der Sitz der Herzöge von Alemannien. Über dem Tor des Hauses ist das Bild eines geharnischten Ritters zu sehen mit der Inschrift: "In dieser Burg residierte im Jahre 641 Gunzo, Herzog von Schwaben und Alemannien." In früheren Zeiten erschien den Hausbewohnern bisweilen ein großer, über sechs Fuß hoher, schwarzer Ritter mit geschlossenem Visier; er kam plötzlich und verschwand ebenso. Auch manchen Leuten, welche hinter dem Haus das Burggäßchen hinaufgingen, begegnete er, verfolgte sie und warf sie in den Stadtgraben hinab. Als aber unter die Dachtraufe an der unteren Hausecke gegen das Gäßchen ein Kreuz unter Ziegelsteinen vergraben worden war, konnte der Geist nicht mehr herunterkommen. Im Haus jedoch zeigte er sich noch von Zeit zu Zeit. Vor etlichen Jahren kam er abends in das Zimmer, wo die Frau des Hausherrn bereits zu Bett lag. Die Tür öffnete sich geräuschlos; ein schwarzer, gewaltig großer Ritter mit unkenntlichem Gesicht trat herein, in der Hand ein Kohlengefäß, aus welchem Feuerfunken sprühten. Nachdem er im Zimmer umhergegangen, beugte er sich über das Bett der Frau und schüttete das Flammengefäß aus, so daß sich das Feuer über das Bett ergoß, ohne jedoch den geringsten Schaden anzurichten. Die Frau aber gebar bald darauf ein Kind mit schwarzen Brandmalen.

Quelle: J. Waibel und Hermann Flamm, Badisches Sagenbuch. Abt. 1: Sagen des Bodensees, des oberen Rheintals und der Waldstädte. Freiburg 1898, S. 95 f.