Friedrich Gottschalck
Die Sagen und Volksmährchen der Deutschen
Halle, 1814.
Vorrede.
Keiner europäischen Nation fehlt es an fabelhaften Erzählungen
aus der Geschichte ihrer Vorzeit, welche unterm Volke einheimisch sind,
ihm angehören, und daher mit Recht Volkssagen, Volksmährchen
genannt werden. Die Vorliebe für das Alterthümliche war es,
welche sie aufbewahrte, vom Vater dem Sohne, und von diesem dem Enkel
bis auf unsere Tage forterzählen ließ. Daß sie nicht
bloß Spiele einer lebhaften Einbildungskraft sind, sondern gewöhnlich
irgend einer Veranlassung ihre Entstehung danken, leidet keinen Zweifel.
Spürt man dieser nach, so findet man sie oft in dieser oder jener
historischen Handlung der ältesten Zeit. Greifen sie mit dem Geiste
der Vorzeit, oder mit den Handlungen mehrerer oder auch nur einzelner
Menschen, in einander, so erhalten sie schon mehr Wichtigkeit. Finden
sich aber auch historische Hinweisungen oder örtliche Ueberbleibsel,
die damit zusammentreffen, und wo vielleicht eine sich auf die andere
stützt, dann treten sie gewisser Maßen an die Stelle der Geschichte,
und können dem Alterthumsforscher vielleicht zur Erläuterung
und Aufhellung von Urkunden dienen.
Wer sie aber auch, da sie freilich immer die trübsten und ärmsten
aller Quellen der Geschichte bleiben werden, als solche verwerfen wollte,
der würde doch die in ihnen lebende reine Poesie, die natürliche,
sie schmückende Einfalt, den treuen kindlichen Sinn, der überall
aus ihnen hervorblickt, die in vielen verborgen liegende schöne Moral
und eine religiöse Neigung für das Wunderbare als anziehend
anerkennen und auch zugeben müssen, daß ihnen das Verdienst,
Belege zur Charakteristik unserer Voreltern zu seyn, nicht abgesprochen
werden könne.
Ist es daher keinem Zweifel unterworfen, daß Volksmährchen
ihren Werth haben, so lohnt es auch wohl der Mühe, sie zu sammeln
und sie als Erbstücke aus einer längst verschwundenen Ahnenzeit
unsern Enkeln aufzubewahren. Dieß muß jedoch bald, es muß
jetzt geschehen; denn die zugenommene Bildung eben der Klasse von Menschen,
von der sie hauptsächlich festgehalten und fortgenommen wurden, hat
leider schon bei ihnen eine Lauheit gegen diese lieblichen, einheimischen
Mythen erzeugt, welche deren endliches Vergessen zur Folge haben wird.
Es achtet nicht mehr so darauf, das Volk; und mit dem Heimgange des alten
Mütterchens, das sie jetzt noch weiß, wird wohl die Kunde dahin
seyn. Die Jugend hat jetzt andere Vergnügungen, und kehrt sich nicht
mehr an die fabelhaften Erzählungen der Mütter; ja es hält
schwer, selbst das Alter zur Erzählung solcher Sagen zu bringen,
und nur durch Treuherzigkeit, nur durch eine unverstellte ernste Aufmerksamkeit
darauf, vermag man es zur Mittheilung zu bewegen.
Zu den Nationen, welche solche Volksmährchen im Ueberflusse besitzen,
gehört auch die deutsche. An ihren Burg- und Kloster-Ruinen, an den
Gipfeln ihrer Berge, an ihren Flüssen, Quellen, Hainen, Felsen, Höhlen
und Untiefen haften ihrer in Menge; und wem unter uns wäre wohl die
Erinnerung des Zaubers erloschen, mit welchem diese Mährchen unser
kindliches Gemüth ergriffen, wenn wir mit lauschendem Ohre und hingegebenem
Staunen vor der Pflegerin standen, und jedes Wort auffaßten, daß
ja keins verloren ginge, bis das grausende oder liebliche Ende der Sage
uns ausrufen ließ: Noch ein Mal, noch ein Mal!
Diese unsere vaterländischen Mythen nun aufzubewahren, sie vor dem
gänzlichen Vergessen zu sichern, beabsichtige ich durch die Herausgabe
dieser Sammlung. Mein Plan ist, sie zu einer möglichst vollständigen
zu erheben, und ich gedenke ihn durchzuführen, wenn ich, außer
der Benutzung schon vorhandener ähnlicher Sammlungen und sonstiger
mir zu Gebote stehender Hülfsmittel, so glücklich bin, Freunde
für mein Unternehmen zu gewinnen, die mir vorzüglich solche
Mährchen mittheilen, welche noch nirgends aufgefaßt wurden,
und nur im Munde des Volks fortlebten. Finde ich diese, dann überlasse
ich mich sehr gern der Hoffnung, eine Bibliothek der deutschen Volksmährchen
entstehen zu sehen, die vielleicht für Deutschland dasselbe werden
könnte, was Legrand's Sammlung für Frankreich ist: eine
Sammlung von historisch-romantischen Erzählungen nicht bloß
zur Unterhaltung in den Stunden der Muße, sondern auch für
den Menschenbeobachter und den philosophischen Geschichtsforscher. Daß
hierbei manche Sage mit unterlaufen wird, die eben kein Dichtergeist belebt,
die sich nicht durch charakteristische Züge auszeichnet, ist gewiß,
aber bei dem mir vorgesteckten Ziele nicht wohl zu vermeiden.
Da jede Volkssage an Eigenthümlichkeit verlöre, und die wenigen
historischen Goldkörner, die sie vielleicht besitzt, rein verflüchtigt
würden, wenn man sie nicht in der Sprache des Volks, mit Vermeidung
aller fremdartigen Zusätze und ohne eine willkürliche Ausdehnung,
geben wollte, so müssen auch diese Rücksichten durchaus beachtet,
und niemals verlassen werden. Sie sollen daher in der ihnen eignen schmucklosen
Sprache und möglichst so, wie sie unterm Volke lauten, erzählt
werden, und wer mir einen dankenswerthen Beitrag liefern will, den bitte
ich, dieß nicht zu vernachlässigen. Durch fremdartige Zusätze,
durch weiteres Ausdehnen, durch eine romantische Bearbeitung, würde
die Erzählung vielleicht an Unterhaltung, aber nur auf Kosten der
Originalität, gewinnen, und das wäre meiner Absicht und der
guten Sache ganz entgegen.
Wie sehr ich auch überzeugt bin, daß echte Volkssagen, durch
eine zweckmäßige Anordnung - sie sey nun auf die Zeitfolge
oder auf die Oertlichkeit gegründet - für den Forscher an Werth
gewinnen würde, und so gern ich diesen Forderungen entsprochen haben
möchte, so stellen sich jedoch eine Menge von Hindernissen der Ausführung
entgegen, die schwerlich ganz zu beseitigen seyn dürften. Die Entstehungsperiode
eines Mährchens aufzufinden, gelingt höchst selten, und auch
dann nur in so weit, daß man ungefähr das Jahrhundert, aus
dem es hervorging, anzugeben vermag. Nur von denen, worin eine historisch
bekannte Person auftritt, z.B. Kaiser Friedrich II., der in den Mährchen
vom Kiffhäuser die Hauptrolle spielt, läßt sich mit etwas
mehr Wahrscheinlichkeit dem Ursprunge näher kommen. Bei dem bei weitem
größten Theile ist jede Nachforschung durchaus vergebens, und
die Idee einer chronologischen Anordnung bleibt daher ein unausführbares
Beginnen.
Mit weniger Hindernissen würde eine Anordnung nach Gegenden, nach
Ländern verknüpft seyn, und wem es vergönnt wäre,
alle die Gegenden, wo Volkssagen vorzüglich zu Haus sind, selbst,
und in der Absicht zu ihrer Aufsammlung genau durchstreichen zu können,
dem dürfte es vielleicht gelingen, sie alle aufzufinden; allein,
wer kann das? Und wenn es Jemand könnte, so würde ihm doch wohl,
selbst bei der größten Sorgfalt, manches Mährchen entschlüpfen.
Wenn es nun auf diese Art nicht möglich ist, den Zweck der Vollständigkeit
zu erreichen, so wird es auch durchaus auf keine andere möglich seyn.
Für mich geht hieraus die Ueberzeugung hervor, daß eine chronologisch
oder nach Länderbezirken geordnete vollständige Sammlung der
deutschen Volksmährchen so lange noch ein unerreichbarer Wunsch bleiben
wird, bis von vielen Seiten her zusammengetragen ist, und alsdann der
künftige Freund unserer vaterländischen Volksdichtungen sie
in chronologischer oder geographischer Form aufzustellen vermag.
Ueberhaupt scheint es mir, als ob man den Volksmährchen einen größern
historischen Werth beilege, als sie wirklich besitzen. Wer mit mir dieselbe
Ansicht hat, und sie mehr von Seiten der Unterhaltung nimmt, der wird
es daher weniger mißbilligen, wenn ich hier Mährchen, Sagen
und Legenden gebe, ohne eine besondere Ordnung zu beobachten, und so wie
ich sie auffinde und erhalte. Am Schlusse der Sammlung kann immer noch
durch verschiedene Classificationen dem Wunsche derer entsprochen werden,
welche mit dieser regellosen Aufstellung nicht zufrieden seyn möchten.
Woher ich jedes Mährchen nahm, woher ich es erhielt, das werde ich
immer eben so genau angeben, als wo es sonst schon erzählt, wo es
vielleicht schon poetisch oder romantisch bearbeitet wurde.
Wer über die Bedeutung, über den Werth, über die Quellen
und über die Veranlassung zur Entstehung der Volkssagen Aufschlüsse
verlangt, den kann man mit Recht auf die gehaltvollen und durchdachten
Abhandlungen verweisen, welche Nachtigal in Halberstadt seinen
»Volkssagen, nacherzählt von Otmar« (Bremen 1800.
8.) vorangeschickt hat, und welche diese Gegenstände in ihrer Art
ausführlich und ernsthaft behandeln. Zugleich aber kann ich mir nicht
versagen, hier auch den folgenden Bemerkungen noch einen Platz anzuweisen,
welche mein geschätzter Freund, der Hofrath Beckedorff, als
eine, hoffentlich nicht unwillkommene, Zugabe zu diesem ersten Bändchen,
mir mitzutheilen die Güte gehabt hat.
Ballenstedt, den 18ten Oct. 1814.
F. Gottschalck.
Gesetzt, es gäbe Jemanden, welcher Volksmährchen zu hören
oder zu lesen ein besonderes Vergnügen fände, - worin er denn
allerdings sehr Recht haben würde - welcher aber sich nicht begnügen
wollte, dem bald heitern, bald ernsten, bald muthwilligen, bald schauderhaften,
immer aber anziehenden Eindrucke dieser wunderbaren Erzählungen sich
ohne weiteres zu überlassen, sondern verlangte, auch noch darüber
hinaus Etwas zu wissen und von den Sagen selbst allerhand zu erfahren,
so etwa, wie man von einem Menschen, der uns gefällt, gern noch mancherlei
persönliche Dinge zu wissen begehrt, als da sind: wie er heiße,
woher er komme, was er wolle, wohin er gehe, und dergleichen mehr; ein
solcher würde wahrscheinlich eine Menge Fragen thun, die ihm denn
doch beantwortet werden müßten.
Ich will eine solche Antwort auf die natürlichsten von diesen Fragen
hier, so gut es gehn will, versuchen. Vielleicht, daß einige Leser
dadurch befriedigt werden. Andersdenkende aber mögen ihre abweichenden
Ansichten daran prüfen, befestigen, oder auch berichtigen.
Erste Frage:
Was sind Volkssagen?
Im Grunde könnte man darunter alle jene Erzählungen von verschiedenartigstem
Inhalte verstehen, die im Munde des Volks leben, und sich dort von der
Großmutter zum Enkel getreu fortpflanzen. Indessen möchte alsdann
manches dazu gerechnet werden, was diesen Namen eigentlich nicht verdient,
als z.B. wirkliche historische Anekdoten, eigentliche Mährchen, die
das Gepräge absichtlicher Erfindung an sich tragen, und und endlich,
falls sie sich unter dem Volke erhalten sollten, jene erdichteten Erzählungen
mit moralischer Richtung, die man in der neuern Zeit ihm geflissentlich
in Kalendern, Aufklärungsschriften, Volksbüchern und dergleichen,
hat in die Hände spielen wollen. Echte Volkssagen aber, lassen sich
vielleicht an folgenden Unterscheidungszeichen erkennen:
1) sie ruhen auf einem geschichtlichen oder örtlichen Grunde; sie
beziehen sich entweder auf wirkliche historische Personen, Familien und
Begebenheiten, oder auf bekannte Gegenden und Orte, und bekommen eben
dadurch einen Schein und Anstrich von Wahrheit;
2) sie enthalten aber auch einen wunderbaren oder wenigstens abenteuerlichen
Bestandtheil, durch welchen jener Anschein von Wahrheit immer wieder zunichte
gemacht, und ein zweifelhaftes und eben dadurch anziehendes Halbdunkel
über das Ganze verbreitet wird; und endlich
3) sie haben keine anderen Quellen, als sich selbst; sie sind da, sie
werden erzählt, sie gefallen, sie reizen, aber wer sie erdacht, wer
sie zuerst erzählt habe, ist unbekannt.
Und durch dieses alles werden sie nun dasjenige, wofür sie eigentlich
gehalten werden müssen, nämlich der Kreis und Inbegriff der
gesammten Volks-Dichtung: sie enthalten den Stoff der ganzen National-Poesie,
und was von dieser überhaupt gilt, das findet auf sie ebenfalls Anwendung.
Wenn wir annehmen, daß wohl jeder Mensch von Zeit zu Zeit das Stückwerk
seines Daseyns lebhaft empfindet, daß er sich bald durch die Noth
des Augenblicks, bald durch das Dunkel der Zukunft, hier durch die eigene
Kurzsichtigkeit, dort durch fremde Verkehrtheit, immer aber durch ein
räthselhaftes Geschick, und durch eine unübersehbare und unerforschliche
Weltordnung gedrückt, gehemmt und beschränkt fühlt; so
werden wir es sehr begreiflich finden, daß er sich auch dann und
wann hinaus sehnt aus der Enge und Verwirrung dieses Lebens in eine Welt
voll erkannten Zusammenhanges, wo alle billigen Wünsche erfüllt,
jede Sehnsucht befriedigt, der Schmerz versöhnt, und die Thränen
getrocknet werden. Da aber in der weiten Wirklichkeit eine solche Welt
nicht vorgefunden wird, so ist es ebenfalls natürlich, daß
der Mensch sie sich selbst auferbaut in Träumen, Wünschen, Hoffnungen
und Ahndungen. Und so entsteht ihm dann jene wunderbare Welt der Dichtungen,
wohin der Geist so gern sich flüchtet aus den kleinlichen und drückenden
Verwicklungen des alltäglichen Lebens, und worin er nicht sowohl
wirklichen Ersatz für den Druck des Lebens, als vielmehr nur ein
tröstliches Bild und eine Bürgschaft finden will von einer zusammenhängenden,
weisen und gerechten Ordnung der Dinge. Damit aber die solchergestalt
erschaffene Welt nicht bloß als ein Reich phantastischer Gebilde
erscheine, so knüpft er sie gern mit festen Banden an die Wirklichkeit
fest. Bekannte Gegenden und Orte müssen den Hintergrund bilden, geschichtliche
Personen geben ihre Namen her, oder wahre Begebenheiten werden auf irgend
eine Weise hinein verflochten; und wie die meisten Menschen gerne ihrer
Jugend gedenken, sie als eine Zeit des Glückes und der Zufriedenheit
sich vorzustellen pflegen, und so aus der Erinnerung einer besseren Vergangenheit
Erheiterung und Trost in der Gegenwart hernehmen mögen, so werden
auch jene Dichtungen am liebsten in eine frühere, oft dunkle, aber
immer als glücklicher gepriesene Vorzeit verlegt. Endlich aber werden
ungewöhnliche und abenteuerliche Verhältnisse und wunderbare
Wesen und Gestalten hineingewebt, theils als Reiz und Spiel der Einbildungskraft,
theils als Zeugniß von dem in der menschlichen Seele tief gegründeten
Glauben an einen unergründlichen Weltzusammenhang, theils endlich
als immerwährende Erinnerung, daß das Ganze doch nur menschliche
Erfindung und Spiel sey.
Und auf diese Weise bildet sich die Poesie überall und zu allen Zeiten.
Ihre Quelle ist die im menschlichen Gemüthe gegründete unverwüstliche
Sehnsucht nach einem glücklichen, vollkommenen und befriedigenden
Zustande, und sie selbst erscheint zugleich als Spiegel und als Gegensatz
der Wirklichkeit, als bedeutsames Bild einer wünschenswerthen Weltordnung
und als Inbegriff der unerfüllten Ansprüche an das Leben. -
Da indessen nach der Verschiedenheit der Zeiten sowohl als der einzelnen
Charactere und selbst der augenblicklichen Stimmungen auch die Ansichten
vom Leben und die Ansprüche an dasselbe höchst verschieden sind,
so müssen auch die einzelnen Dichtungen darnach eine sehr ungleiche
Gestalt zeigen. Bald nämlich sind sie heiter scherzend, bald bitter
spottend und strafend, dann schmerzlich klagend, und dann wieder tröstlich
beruhigend, bald vollständig beglückend, bald tragisch versöhnend,
immer aber doch verlegt. Endlich aber werden ungewöhnliche und abenteuerliche
Verhältnisse und wunderbare Wesen und Gestalten hineingewebt, theils
als Reiz und Spiel der Einbildungskraft, theils als Zeugniß von
dem in der menschlichen Seele tief gegründeten Glauben an einen unergründlichen
Weltzusammenhang, theils endlich als immerwährende Erinnerung, daß
das Ganze doch nur menschliche Erfindung und Spiel sey.
Und auf diese Weise bildet sich die Poesie überall und zu allen Zeiten.
Ihre Quelle ist die im menschlichen Gemüthe gegründete unverwüstliche
Sehnsucht nach einem glücklichen, vollkommenen und befriedigenden
Zustande, und sie selbst erscheint zugleich als Spiegel und als Gegensatz
der Wirklichkeit, als bedeutsames Bild einer wünschenswerthen Weltordnung
und als Inbegriff der unerfüllten Ansprüche an das Leben. -
Da indessen nach der Verschiedenheit der Zeiten sowohl als der einzelnen
Charactere und selbst der augenblicklichen Stimmungen auch die Ansichten
vom Leben und die Ansprüche an dasselbe höchst verschieden sind,
so müssen auch die einzelnen Dichtungen darnach eine sehr ungleiche
Gestalt zeigen. Bald nämlich sind sie heiter scherzend, bald bitter
spottend und strafend, dann schmerzlich klagend, und dann wieder tröstlich
beruhigend, bald vollständig beglückend, bald tragisch versöhnend,
immer aber doch scher Berggeist die kleineren Unbilden des Lebens scherzhaft,
aber derb berichtigt oder bestraft: zeigt sich dann in diesen ernsteren
oder heiteren Sagen nicht neben dem stillen Unmuth über die ungerechten
Ungleichheiten des Lebens auch das tröstende Vertrauen auf eine höhere
ausgleichende Gerechtigkeit? Oder wenn ein kluger und mächtiger,
aber übermüthiger König endlich in Ketten und Banden geschlagen
wird; wenn in den Pallästen der Fürsten und Großen eine
weißverschleierte Ahnfrau Jahrhunderte hindurch Unglück weissagend
umherwandelt; wenn eine Riesentochter, mit ihrer goldenen Krone auf dem
Haupt, den drei Mal wiederholten frevelhaften Sprung über die grause
Felsenschluft mit ihrem Leben bezahlt, und eine arme Jungfrau dagegen,
die, von einem frechen Jäger verfolgt, sich den Felsen hinabstürzt,
unbeschädigt von den Engeln in die Tiefe getragen wird: scheinen
solche Erzählungen nicht auf das Mißliche und Gefahrvolle der
irdischen Hoheit hinzudeuten, und das Lob der unbekannten Niedrigkeit
mit dem Troste der überall verbreiteten göttlichen Hülfe
zu enthalten? Und wenn endlich wohlbekannte nahgelegene Felsen, Wälder,
Hügel, Thäler und Quellen mit wunderbaren Bewohnern bevölkert,
oder durch seltsame Begebenheiten und Abenteuer aus lange verflossenen
Zeiten merkwürdig erscheinen, strahlt dann nicht ein Theil ihres
Rufes auch auf die Anwohner zurück, und giebt ihnen selbst einen
wundersamen Anstrich, oder setzt sie wenigstens mit einer geheimnißvollen
Vorzeit in ehrenvolle Verbindung?
Und so wandeln dann alle diese seltsamen Sagen und Mährchen neben
dem mühseligen und einförmigen Leben des beschränkten,
gedrückten und belasteten Volks freundlich, tröstend, hülfreich
und oftmals erhebend einher, und helfen die wenigen Stunden verkürzen
und erheitern, welche dem harten Dienste der Nothdurft abgewonnen worden
sind. Gutmüthige Mütter aber übernehmen das dankbare Geschäft
der Dichter, indem sie entweder den überlieferten Stoff nach ihrer
Art bald mehr bald weniger ausführlich und lebendig darstellen und
ausschmücken, auch wohl verändern und umgestalten, oder aus
eigener Erfindung und gelegentlicher Veranlassung neue Erzählungen
hinzufügen. Und diese Bewandniß nun scheint es überall
mit den Volkssagen anjetzt zu haben. Ich sage: anjetzt, wo ein
so auffallendes Mißverhältniß in Bildung, Ansichten und
Sitten unter den einzelnen Theilen derselben Nation Statt findet. In alter
Zeit freilich, als das sogenannte Wiederaufleben der antiken Kultur noch
nicht dem einen Theile der Nation den bevorzugten Namen des gebildeten
beigelegt hatte; mag auch kein großer Unterschied zwischen Volksdichtungen
und der Poesie der höheren Stände gewesen seyn. Dieselben Sagen
und Erzählungen, von welchen sich Fürsten und Ritter angezogen
und erfreut fühlten, ergötzten auch den Knappen und den Knecht,
und die Lieder und Gesänge, welche in Schlössern und Burgen
ertönten, hallten in Häusern und Hütten wieder, so, daß
in jener vollständigern Zeit Volkssagen schwerlich in dem Sinne angetroffen
werden möchten, worin hier versucht worden ist, ihr Wesen und ihre
Bedeutung zu beschreiben und zu erklären.
Volkssagen also machen die Poesie des Volkes aus, und, indem dieses hier
hat sollen gezeigt werden, ist auch die mögliche
Zweite Frage:Woher stammen die Volkssagen? und wo sind sie zu Hause?
schon vorläufig mit beantwortet worden.
Die Volkssagen stammen her aus der Natur der menschlichen Seele, aus der
in jedem Gemüthe wohnenden Sehnsucht nach Freude, Freiheit, Ordnung,
Licht und Recht; und sie sind überall zu Hause, wo Menschen denken,
betrachten, empfinden und gesellig leben. Sie entstehen wie von selbst,
sie verändern, sie erneuern sich, und wenn nicht Dichter, Chroniken-Schreiber
oder Sammler sie für längere Zeit festhalten und aufbewahren,
verschwinden sie auch wieder, wie von selbst und oftmals ohne Spur; wie
denn, zum Beweise dieser Behauptung, von dem ganzen großen Sagenkreise
altdeutscher Vorzeit außer den wenigen Bruchstücken, die uns
alte Gesänge und das Heldenbuch bewahrt haben, wohl nur wenige oder
gar keine Ueberbleibsel in lebendiger Ueberlieferung mehr gefunden werden
möchten.
Was es jedoch mit den einzelnen noch vorhandenen Sagen für eine Bewandniß
habe; welchen geschichtlichen, örtlichen oder anderweitigen Veranlassungen
sie ihre Entstehung verdanken mögen; wann und wo sie zuerst erfunden
seyn können; in welcher Verbindung die Sagen einzelner Provinzen
und ganzer Länder mit einander stehen, wie sie gewandert, verändert
und umgestaltet sind; wie weit die Erzählungen von bestimmten fabelhaften
Wesen und Personen reichen u.s.w., dieß alles sind Fragen, welche
von Wißbegierigen leicht aufgeworfen werden können, und deren
Beantwortung schon an andern Orten und namentlich in den »Volkssagen
von Nachtigall in Halberstadt« ausführlich und geistreich versucht
worden ist. Auf jeden Fall aber bleibt es ausgemacht, und erhellet auch
zur Genüge aus dem oben Gesagten, daß die ganze Geschichte
eines Volks, seine Abstammung, Wanderungen und Schicksale, ferner die
verschiedenen Zustände von Rohheit und steigender Ausbildung, seine
Verfassung, Sitten, Religion, Regierungsart, das Klima und die Beschaffenheit
seiner Wohnsitze, seine Armuth oder Wohlhabenheit, und endlich seine Bedürfnisse,
Ansprüche und Wünsche auch auf die Sagen desselben den mannigfaltigsten
und bestimmtesten Einfluß werden äußern müssen,
und daß daher ein scharfsichtiger Beobachter und aufmerksamer Prüfer
auch umgekehrt aus Inhalt, Art, Ton, und Farbe der einzelnen Sagen treffende
Rückschlüsse auf Zeit, Ort, und Veranlassung ihrer Entstehung
wird machen können. Es ist begreiflich, daß die Mythen roherer
Völker auch ein wilderes, kriegerisches, aber mehr wunderbares und
religiöses Gepräge zeigen werden, daß die Sagen südlicher
Nationen freundlicher, reicher, üppiger und sinnlicher, die der nördlichen
hingegen düsterer, trüber und ahndungsvoller erscheinen müssen;
daß unter freien, glücklichen und wohlhabenden Völkern
auch die Mährchen heiterer und scherzhafter, bei ärmeren und
gedrückteren aber trauriger, klagender und mißmuthiger seyn
werden; daß ferner gebirgige Gegenden deren mehr und mannigfaltiger
besitzen müssen als das ebene Land, und endlich, daß es, wie
schon mehrmals bemerkt worden ist, vor allen Dingen die Zeit sey mit ihren
Veränderungen und Fortschritten, mit ihren religiösen und politischen
Reformen und Umwälzungen, vorzüglich aber mit ihren Ansichten
und Ansprüchen, Wünschen und Hoffnungen, welche entscheidend
auf dieselben werde gewirkt haben. -
Wenn es nun aber eine Zeit gäbe, oder gegeben hätte, in welcher
die Menschen sich gar wohl und behaglich gefühlt hätten, worin
sie mit ihren friedlichen und glücklichen Lagen und Verhältnissen,
hauptsächlich aber mit dem Zustande ihrer Bildung, mit ihrer Einsicht,
ihrer Weisheit, ihren Empfindungen und Urtheilen höchlich zufrieden
gewesen wären, welche sie selbst als eine vortreffliche und überlegene
Zeit zu betrachten und zu preisen sich nicht hätten erwehren können,
und von welcher aus sie die verflossenen Zeiten nicht bloß zu eigener
Genugthuung vornehm betrachtet, sondern auch deren Thaten, Arbeiten und
Bestrebungen einer neuen Prüfung und verständigen Sichtung zu
unterwerfen für nöthig erachtet hätten, so würde eine
solche Zeit begreiflicher Weise der Poesie eben nicht günstig gewesen
seyn. Wozu hätte sie auch in ihrer eigenen Vortrefflichkeit diesen
schöneren Gegensatz einer unvollkommenen Wirklichkeit, dieses erfreuliche
Bild eines besseren Lebens, diese hülfreiche und tröstenden
Begleiterin des beschränkten Daseyns eben gebrauchen können.
Wenn sie aber dennoch der Poesie, als einer angenehmen Zugabe, eines herkömmlichen
Luxus des Lebens, etwa zur Uebung des Urtheils und Witzes, oder zu gelegentlicher
Erwärmung der Empfindung nicht ganz hätte entbehren wollen;
so würde sie doch gewiß nicht unterlassen haben, derselben
eine neue angemessene Richtung zu ertheilen. Sie würde also zuvörderst
das Alterthümliche und hauptsächlich alles Wunderbare daraus
verbannt, und sie sodann angewiesen haben, sich in allen Stücken,
so viel wie möglich, an die wirklichen Zustände des Lebens,
an die sogenannte Natur und Wahrheit zu halten, und sich in Form und Inhalt
einer getreuen Nachahmung derselben zu befleißigen, indem es ja
nur darauf abgesehen sey, durch die erdichteten Darstellungen zu einer
recht täuschenden, schnellen und vielseitigen Berührung mit
der geliebten Wirklichkeit zu gelangen.
Wir kennen sie; und haben sie zum Theil erlebt, eine solche eigenliebige,
an sich selbst verschwendete und zersplitterte Zeit, und ein großer
Meister hat es übernommen, uns das Bild derselben und ihrer buntscheckigen,
nach den verschiedenen Aeußerlichkeiten des Lebens aus einander
gerichteten, selbst gefälligen Thätigkeit in Darstellungen »aus
seinem Leben« lehrreich und warnend vor die Augen zu führen,
und an seinem eigenen Beispiele zu zeigen, wie selbst ein großes
Talent und ein gesundes Naturell in solcher Zeit verleitet werden können,
die Dichtung ganz in das wirkliche Leben herab zu ziehen, und sie zu augenblicklichen
und bloß persönlichen Zwecken zu verbrauchen, so daß
sie am Ende, obgleich immer ihrer eigenthümlichen hülfreichen
Natur gemäß, nur als ein »Hausmittel« dienen muß,
um über innere peinliche Verwickelungen oder kleine moralische Verlegenheiten
glücklich hinweg zu helfen.
Daß nun ein solches Zeitalter der Wunderwelt der Volkssagen eben
nicht günstig gewesen seyn könne, läßt sich leicht
erachten. Auch hat man darin nicht unterlassen, sie bald als kindisch
zu verspotten, bald als abergläubisch und gefährlich zu verwerfen;
und da ein, eben dieser Zeit angehöriges, sonst achtbares Bestreben,
die Zustände des Volks zu verbessern und dasselbe an sich heran zu
bilden, hinzugekommen ist; so hat man vielfältig sogar gesucht, die
alten wunderbaren Sagen und Mährchen ganz zu verdrängen, und
an ihre Stelle eine Reihe sogenannter natürlicher und vernünftiger,
kurz zeitgemäßer Erzählungen unterzuschieben, so, daß,
wenn es gelungen wäre, in kurzer Zeit Nachbar Velten und Vetter Michel
die Stellen eingenommen haben würden, welche Kaiser Friedrich und
der Ritter Siegfried so lange glänzend behauptet hatten.
Und in dieser Beschaffenheit der vorletzten Zeit liegt nun auch der Hauptgrund,
warum die Sagen und Mährchen, wie ihre Sammler jetzt häufig
klagen, unter dem Volke selbst so selten geworden sind. Hernach ist die
Noth und der Druck der jüngsten Zeit hinzugekommen, und so haben
nach und nach die seltsamen Wesen und Gestalten der alten Sagenwelt sich
von der unfreundlichen Wirklichkeit in ihre Wälder, Burgen, Klüfte
und Höhlen, oder in ihre luftige Heimath auf eine Zeitlang zurückziehen
müssen.
Aber sie werden wiederkehren, und die glorreiche Zeit, welche uns angebrochen
ist, und worin Alles ehrwürdig- Alte in erneuerter Form wieder auferstehen
muß, wird auch sie wieder, und hoffentlich in noch besserer und
verjüngter Gestalt, zurückführen und in ihr altes schönes
Recht einsetzen; ja, es ist zu erwarten, daß diese Zeit selbst dereinst
als der Beginn eines neuen würdigen Sagenkreises und einer großen
nationalen Poesie, von den kommenden Geschlechtern werde betrachtet werden.
Dritte Frage:Wie lassen sich die Volkssagen ordnen und eintheilen?
Diese Frage, welche wohl nur von ordnungsliebenden Sammlern aufgeworfen
werden möchte, läßt sich auf mannigfaltige Weise beantworten.
Volkssagen lassen sich ordnen einmal auf gleiche Weise, wie die
einzelnen Dichtungsarten selbst klassifiziert worden sind, insofern dieß
nämlich nicht nach der Form der Darstellung, sondern nach der Art
des Inhalts geschehen ist, und so bekommen wir komische und tragische,
elegische und satyrische, idyllische und epische Sagen; sie lassen sich
ferner ordnen nach ihrer Heimath, und in dieser Rücksicht
giebt es allgemein verbreitete Sagen, Sagen einzelner Länder, Sagen
einzelner Provinzen, und endlich ganz bestimmte Local-Sagen; sie lassen
sich drittens ordnen nach den Gestalten, Personen oder Begebenheiten,
die in ihnen wiederkehrend vorkommen, und auf diese Weise haben wir Hühnen-Sagen,
Zwerg-Sagen, Geister-Sagen, oder auch die Sagen von Karl dem Großen,
vom Kaiser Friedrich, die Mährchen vom Rübezahl u.s.w.; und
endlich viertens lassen sie sich ordnen, - und dieß möchte
vielleicht die bequemste und beste Art ihrer Eintheilung seyn, - nach
der ihnen selbst inwohnenden Zeit; und in dieser Rücksicht kann man
sie füglich in vier Hauptordnungen bringen: Es giebt Sagen 1) aus
fabelhafter Urwelt, 2) aus dunkler Vorwelt, 3) aus späterer historisch
erhellter Zeit, und 4) die außer aller Beziehung auf irgend eine
Zeit stehen, und welchen man deshalb zur Unterscheidung die Benennung:
Volksmährchen, beilegen könnte, da jene ersteren drei
Arten hingegen vorzugsweise den Namen der Volkssagen verdienen
möchten. Welche von diesen oder anderen gedenkbaren Eintheilungsarten
man jedoch annehmen wolle, scheint höchst gleichgültig zu seyn,
oder wird vielmehr von den besondern Zwecken abhangen, um welcher willen
ihre Sammlungen veranstaltet werden. Am besten ist es wohl, sie gar nicht
zu ordnen, ihr freies, buntes, durch einander geschlungenes Leben, durch
keine steife Rangordnung zu stören, und dergestalt den neu entdeckten
oder neu erfundenen immer einen ungehinderten Eintritt in die wunderbare
alte Gesellschaft offen zu erhalten.
Vierte Frage:Welchen Nutzen haben die Volkssagen?
Wenn man zu Beantwortung dieser Frage zuvörderst den Begriff von
Nutzen überhaupt erörtert und die mancherlei Zwecke berücksichtigt
hätte, zu welchen die Volkssagen etwa gebraucht werden können;
so würde man wahrscheinlich finden, daß nach Verschiedenheit
der Forderungen, welche an sie gemacht werden, auch ihr Nutzen höchst
verschieden ausfällt.
Wer sich ihrer gelehrten Absichten, für Historie, alte Erdbeschreibung,
Kultur- oder Sitten-Geschichte und dergl. bedienen wollte, würde
schwerlich eine reiche Ausbeute aus ihnen zu erwarten haben. In allen
diesen Rücksichten liefern sie wenig oder gar nichts; als Quellen
sind sie durchaus nicht zu gebrauchen, nicht einmal als Hülfsmittel;
höchstens zu Belegen möchten sie dienen können. Und diejenigen,
welche sie zu solchen Zwecken haben anpreisen wollen, scheinen nicht sowohl
ihnen einen übertriebenen Werth beigelegt, als vielmehr ihren wirklichen
Werth gänzlich verkannt zu haben.
Ihr eigentlicher Nutzen nämlich, und welcher auch schon oben bei
ihrer Beschreibung vorläufig angegeben und entwickelt worden, ist
kein anderer, als den alle Poesie überhaupt hat und haben kann, welche
nicht bloß unterhält, ergötzt, erfreuet, erheitert, sondern
auch erhebt und stärkt, ja den Blick von den irdischen Dingen hinweg
auf eine höhere Ordnung und zuletzt auf Gott selbst hin richtet.
Eben so wohlthätig wirken nun auch die Volkssagen, oder vielmehr
sie könnten es, wenn sie in angemessener, würdiger Gestalt dem
Volke, oder besser, der Nation, in die Hände gegeben würden.
Denn freilich ist es mit ihrem bloßen Inhalte, mit dem rohen Stoffe
allein, nicht gethan; es soll nicht bloß eine müßige
Neugier befriedigt oder eine augenblickliche Theilnahme erregt werden,
sondern auch die Empfindung will geweckt und genährt und das Nachdenken
selbst beschäftigt seyn. Erst wenn allen diesen Forderungen ein Genüge
geschehen ist, wenn ein an und für sich Antheil erregender Gegenstand
auch auf zweckmäßige Art dargestellt worden, wenn ihm ein unabhängiger
Anfang und ein befriedigendes Ende, innere Vollständigkeit, Haltung,
nothwendige Verknüpfung, Wahrheit, Reichthum, äußere Anmuth
und Gefälligkeit, vor allen Dingen aber hinlängliche Klarheit
ertheilt und der Reiz und Zauber der Sprache selbst darüber verbreitet
worden ist, erst dann verdient ein poetisches Werk seinen Namen und tritt
in seine schöne Wirksamkeit vollständig ein.
Daß nun auch den Volkssagen zu diesem Einflusse verholfen werde,
ist das Geschäft der Dichter, denen daher diese schönen und
anziehenden Stoffe nicht angelegentlich genug zur Behandlung empfohlen
werden können. Möchten sie doch immer mehr auf jene, aus dem
alltäglichen Leben und den bürgerlichen und geselligen Verhältnissen
der sogenannten gebildeten Stände hergenommenen, Gegenstände
Verzicht leisten, durch welche nicht bloß die Poesie selbst herabgezogen
und entwürdigt, sondern auch das oben gerügte Mißverhältniß
in der Bildung der Nation immer mehr befördert und die Dauer der
poetischen Werke selbst begreiflicher Weise äußerst beschränkt
wird. Möchten sie dagegen, wie ihnen auch schon von großen
Meistern das Beispiel gegeben ist, sich der Volkssagen zu ihren Erzählungen
und Romanen, hauptsächlich aber zu der öffentlichsten Gestalt
der Dichtkunst, zu Schauspielen und zu der wundersamen Gattung der Oper
immer häufiger bedienen! Möchte dazu auch diese Sammlung, welche
die Sagen und Volksmährchen der Deutschen den Liebhabern und Freunden
derselben rein, einfach und ungeschmückt in die Hände zu geben
bestimmt ist, das Ihrige beitragen, und so die wohlgemeinte Absicht des
verdienten Herausgebers glücklich erreicht werden!
Ludolph Beckedorff.
Quelle: Friedrich Gottschalck, Die Sagen und Volksmährchen der Deutschen, Halle 1814