Das versunkene Kloster.
Nahe bei dem Flecken Neuenkirchen, im finstern Odenwalde, liegt in einem
einsamen Wiesenthale ein kleiner See.
Wenig gekannt und wenig besucht ist die Gegend umher; denn es ist so heimlich
da, und der finstere Tannenwald an des See's Ufern hat gar etwas Schauerliches
und Melancholisches. Auch ist das Wasser unergründlich tief, und
man fürchtet sich deshalb noch mehr davor.
Von diesem See wird folgende Sage erzählt:
Vor vielen hundert Jahren stand auf der Stelle, wo jetzt das Wasser ist,
ein Frauenkloster. In einer stürmischen Nacht kam einst, ganz abgemattet,
ein armer alter Mann vor die Pforte desselben. Er klopfte an, und bat
um ein Obdach. Die Pförtnerin war eine gar gemächliche Person
und harten Herzens. Ihr war es zu umständlich und zu kalt, die Schlösser
und Riegel nochmals zu öffnen. Sie hieß daher mit harten Worten
den alten Mann weiter gehen. Das war aber dem vor Frost und Ermattung
zitternden Greise nicht möglich. Er bat nochmals, er jammerte und
winselte, aber alles umsonst. Selbst die Priorin und alle Mitschwestern
wiesen ihn hart ab.
Nur eine Laienschwester, die noch nicht das Gelübde des Ordens abgelegt
hatte, nahm sich des alten Mannes an, und bat die andern, ihn einzulassen.
Aber man lachte sie aus, spottete ihrer, und die Pforte blieb dem Wanderer
verschlossen.
Plötzlich erhob sich ein grausendes Unwetter. Der alte Mann berührte
mit seinem Stabe die Klostermauer, und hinab in die Tiefe versank im Nu
das ganze prächtige Kloster. Erst sprühten Feuerflammen aus
der Tiefe herauf, dann füllte sich die weite Oeffnung mit Wasser,
und am andern Morgen sah man erstaunt da einen See, wo Tags zuvor noch
die schönen Glockenthürme mit ihren goldenen Kreuzen im Sonnenschein
gefunkelt hatten.
Schon längst hatte jene gutmüthige Laienschwester in traulichen
Verhältnissen mit einem der edelsten Ritter des Gaues gelebt. Sie
liebte ihn, und wollte daher auch nicht im Kloster bleiben, und er kam
sehr oft bei nächtlicher Weile zum einsamen Kloster. Wenn dann alles
rings umher schlief, sprach er durchs Gitter der Zelle mit seinem Liebchen,
und oft ging er erst mit Tagesanbruch wieder heim.
Auch in dieser stürmischen Nacht kam er. Aber, wie bebten seine Glieder,
wie zitterte er vor Schmerz und Kummer, als er sein geliebtes Kloster
nicht mehr sah, und nur Wasser vor sich rauschen hörte. Er rang die
Hände, jammerte, rief den Namen seiner Geliebten, daß es weit
und breit wiederhallte, und sprach:
»Nur noch ein Mal kehre zurück in meine Arme!«
Da vernahm er eine Stimme aus der Tiefe des See's, die sprach:
»Morgen um die eilfte Stunde der Nacht kehre wieder zu dieser Stätte.
Auf der Oberfläche des Wassers gewahrst du dann einen Faden von blutrother
Seide. Nimm ihn auf und zieh' ihn empor.«
Die Stimme verhallte. Traurig schlich der Ritter nach Hause, unwissend,
was sein Schicksal seyn werde. Aber zur bestimmten Stunde kam er wieder,
und that, wie die Stimme ihm geheißen.
Zitternd ergriff er den blutrothen Faden, zog ihn auf, und - da stand
die Geliebte vor ihm.
»Das unergründliche Schicksal,« sprach sie, »das
mich Schuldlose mit den Schuldigen versenkte, vergönnt mir, dich
in jeder Nacht von der eilften bis zwölften Stunde zu sprechen. Nie
darf ich aber diese bestimmte Zeit überschreiten, sonst siehst du
mich nie wieder. Auch darf mich, außer dir, keines Mannes Auge erblicken,
sonst schneidet eine unsichtbare Hand den Faden meines Lebens entzwei.«
Lange, lange setzte nun der Ritter seine nächtlichen Besuche fort,
und immer stieg sein Liebchen aus den blauen Wellen zu ihm herauf, wenn
er den blutrothen Faden zog. Sie waren beide eben so glücklich in
diesen geheimnißvollen Verhältnissen, als unbesorgt, sie jemals
zerstört zu sehen. Aber Neid und Mißgunst belauschten des Ritters
Schritte, und ein anderer Mann hatte die Liebenden Arm in Arm am Ufer
des See's wandeln sehen. Als sich nun der Ritter in der folgenden Nacht
beim vollen Monde dem lieben See wieder nahte, ach! da fand er sein klares
Wasser in Blut verwandelt. Bebend ergriff er den Faden, aber - der war
verbleicht und zerschnitten.
Jammernd lief er um den See, rang die Hände, und rief den Namen der
Geliebten. Aber es blieb still. Da stürzte sich der trostlose Jüngling
in den See, und sank hinab.
* * *
Aus der Badenschen Wochenschrift von 1807. S.
17.
Quelle: Friedrich Gottschalck, Die Sagen und Volksmährchen der Deutschen, Halle 1814