Der Thomaspfennig, der Kuttenzins.
Zwei Stunden von dem Anhaltischen Städtchen Harzgerode, auf dem
Harze, liegt das Dorf Stangerode. Unter den 78 Häusern, aus denen
es besteht, sind 13, auf welchen seit undenklichen Zeiten eine seltsame
Verbindlichkeit haftet. Ihre Eigenthümer müssen nämlich
jährlich, in der Nacht vor dem Thomastage, nach dem zwei Stunden
von ihnen entfernten Dorfe Endorf, dem Sitze ihrer Gerichtsstube, gehen,
und hier eine Abgabe entrichten, die der Thomaspfennig oder der
Kuttenzins heißt. Diese Entrichtung, die aus einer Prozession
von Büßenden entstand, ist ein wildes, lärmendes und nächtliches
Volksfest geworden, das an alte thracische Bacchanale erinnert. Sie geschieht
unter folgenden Gebräuchen:
Den 20sten December, als am Tage vor dem Thomastage, tritt des Abends
um acht Uhr der Stangeröder Bauermeister *), begleitet von zwei Ortsbewohnern,
die alle Jahre wechseln, vor das erste der mit dem Kuttenzins belegten
13 Häuser, und ruft:
»Gebt unserm Herrn den Thomaspfennig, den Kuttenzins!«
Er wiederholt diese Worte vor jedem der 13 Häuser. Die Hausbesitzer
stehen dann vor den Hausthüren, und geben dem Bauermeister einen
silbernen kursächsischen Pfennig. Davon behält dieser, dem Herkommen
gemäß, sieben für sich, und die übrigen sechs trägt
er mit seinen Begleitern, an die sich nun viele Ortsbewohner anschließen,
durch das Dorf hindurch, wobei der ganze Haufe fortwährend ausruft:
»Wir bringen unserm gnädigen Herrn den Thomaspfennig, den Kuttenzins,
den Thomaspfennig!«
So geht der Zug nach Endorf hin, wo er gewöhnlich Nachts zwischen
10 und 11 Uhr ankommt. Die Hauptpersonen treten in einem Hause am äußersten
Ende des Dorfes ab, und während dem mehrt sich die Schaar der lärmsüchtigen
und theilnehmenden Zuschauer um dasselbe. Gegen Mitternacht treten die
Stangeröder Bauermeister und Begleiter aus diesem Hause, und nun
schreiet der ganze Hause aus voller Kehle:
»Wir bringen unserm gnädigen Herrn den Thomaspfennig, den Thomaspfennig,
den Kuttenzins!«
Durch das ganze Dorf hindurch erschallt die Luft von diesen Worten, bis
der Zug vor der Gerichtsstube ankommt. Diese ist nun schon geöffnet,
der Justizbeamte steht da, nimmt den Zins von sechs Pfennigen in Empfang,
giebt dem Bauermeister eine Quittung darüber, und ein den Werth der
Abgabe jetzt weit übersteigendes Trinkgeld. Der Volkshause hat sich
indessen immer noch vergrößert, und hebt nun an zu rufen:
»Wir haben gebracht - unserm gnädigen Herrn - den Thomaspfennig
- den Thomaspfennig - den Kuttenzins!«
Zahllose Stimmen schreien tausendfach diese Worte nach, von wildem Gelächter
begleitet. Der Zug geht wieder durch's Dorf durch, und die Stangeröder
Abgeordneten kehren mit dem Empfangschein nach Hause.
Von dem Entstehen dieser sonderbaren und auffallenden Sitte, bei der für
unsere Zeiten gar kein Zusammenhang mit irgend einer weltbürgerlichen
oder auch nur provinziel wichtigen Idee, gar kein Vortheil weder auf Seiten
der Gebenden, noch der Empfangenden, zu entdecken ist, finden sich keine
schriftlichen Nachweisungen, wenigstens sind uns keine bekannt. Nur folgende
steht in den Grund- und Lagerbüchern des Amts Endorf von 1688 und
1708:
»Von Stangerode aus wird berichtet, wie auch in dem Erbenzinsregister
zu finden, daß der Thomaspfennig, oder Kuttenzins, in 6 einzelnen
Pfennigen bestehend, am St. Thomastage, früh vor Sonnenaufgang überantwortet
werden muß. Da aber solches nicht geschieht, so ist die Gemeinde
daselbst, ihrem eignen hierüber gegebenen Berichte nach, schuldig,
von jeder Minute, nach Aufgang der Sonne, eine Tonne Heringe zur Strafe
zu erlegen.«
Uns bleibt daher zur Erklärung dieses Gebrauchs nichts übrig,
als folgende Volkssage, die sich sehr ausführlich auf uns fortgepflanzt
hat.
Nahe bei Endorf und bei dem Städtchen Ermsleben liegt Konradsburg,
ehedem ein Benedictinerkloster, jetzt ein Vorwerk. Die Mönche waren
hier, so wie überall, wohl genährte Tagediebe, unter denen der
Böse freies Spiel hatte. Die Neuaufgenommenen wurden zwar streng
gehalten, mußten in den ersten Jahren, nach abgelegtem Gelübde,
ihre Begierden unter der Ordensregel gefangen nehmen, wenigstens wenn
sie bemerkt wurden. Aber, wenn sie allmählich zu gebietenden Herren
heraufstiegen, und auf die Regierung des Klosters Einfluß bekamen,
dann entschädigten sie sich auch dafür hinreichend. Besonders
befanden sich die, welche die sogenannten Außenhöfe **) des
Klosters verwalteten, oder denen die Einhebung der Erbenzinsen und Lehnsgefälle
übertragen war, in einer sehr behaglichen Lage. Sie lebten hier,
nach ihrem Ausdruck, wie Freiherren, und versagten sich keinen Wunsch.
Eins ihrer Hauptgeschäfte war, hübsche Weibleins zu berücken.
Bei vorkommenden Zweifeln waren sie ja Gebieter über Kirchenbuße
und Absolution.
Unter diesen Klosterherren Konradsburgs war auch Bruder Markus. Er hatte
die Aufsicht über die weitläufigen Forste des Klosters, die
sich mehrere Meilen weit in die Harzgebirge erstreckten. Eins dieser Gehölze
lag dicht bei Stangerode, und heißt noch jetzt das Mönchsholz.
Da es ihm aber wahrscheinlich mehr um menschliche Gesellschaft, als um
der Forsten Wachsthum, zu thun war, so wußte er es bei einer Abtswahl
dahin zu bringen, daß ihm auch die Einhebung der Zinsen in mehrern
Ortschaften aufgetragen wurde, welches die Klausner als die bequemste
Gelegenheit ansahen, sich Verbindungen mancherlei Art zu verschaffen.
So trieb Bruder Markus sein Wesen bald in diesem, bald in jenem Orte,
je nachdem ihn ein weibliches Geschöpf auf Wochen oder Monate anzog.
Unter seinen Liebschaften war auch das junge rasche Weib des Einwohners
Hartung in Stangerode, dessen Haus dicht an das Mönchsholz gebaut
war. Hartung fuhr alle Monate ein Mal nach Halle, um Salz zu holen, worüber
immer einige Tage vergingen, welche das Liebespärchen aufs Beste
zu benutzen wußte.
Hartung fand nach einiger Zeit seine Ilsabe ganz verändert. Sie,
die sonst so arbeitsam und häuslich, und dabei immer vergnügt
gewesen war, war jetzt bei der kleinsten Arbeit träge und verdrossen,
reichte dem heimkehrenden Manne nicht mehr freundlich die Hand, trocknete
ihm nicht den Schweiß von der Stirn, sondern kehrte ihm oft den
Rücken zu, und knurrte und brummte. Schon entfielen ihr Klagen über
ihr elendes Schicksal, über grobe Arbeiten, zu denen ihre Hände
nicht gemacht wären, über Nichtschätzung ihrer Verdienste,
und dergleichen mehr. Hartung starrte sein Weib an, verstand selten, was
sie sagte, und konnte nicht errathen, woher ihr solche Gelehrsamkeit kam.
Bald verleidete Ilsabe ihrem Manne das Haus so, daß er sich nicht
mehr um Weib, Kind und Wirthschaft bekümmerte, und auf den Feldern
voll Unmuth umherirrte. Hier trafen den Einsamen sein Schwager Hierscha
und sein nächster Nachbar Probst. Anfangs wollte ihnen Hartung nicht
zur Rede stehen. Aber sie, die längst schon, durch das Gerücht
von einem blökenden Gespenste, das aus dem Mönchenholze nach
Hartungs Hofe zu gehe, aufmerksam gemacht, das Gespenst selbst beim Hereinschlüpfen
in das Haus belauert hatten, sagten ihm geradezu, der Hühneresser
***) Markus sey Schuld an seinem Unglück.
Sie erzählten ihm dann, daß sie schon zwei Mal, während
seiner Reise nach Halle, einen Mönch auf Händen und Füßen
kriechend, hinter Hartungs Scheure gesehen hätten; daß er hier,
unter einem dick belaubten Nußbaume so lange wie ein Kalb blöke,
bis ihm Ilsabe durch nachgemachtes Hundegebell das Zeichen gebe, oder
ihm die Hinterpforte des Hauses öffne. Probst sagte dabei, er habe
Markus den Tod geschworen, weil er seinen beiden unverheiratheten Töchtern
nachgehe, und der jüngsten geradezu gesagt habe, daß er sie
bald in seine Gewalt bekommen wolle. Lange wollte es Hartung nicht glauben,
was seine Nachbarn gesehen und gehört hatten. Aber endlich schwur
auch er Markus den Tod.
Den 20sten November rüstete sich Hartung zu einer neuen Reise, und
erfuhr noch am Abend dieses Tages, daß sich Markus schon in dem
Mönchenholze habe sehen lassen. Bald nach Mitternacht fuhr er von
seinem Hofe. Aber kaum war er eine Stunde gefahren, als er, in einer ihm
wohlbekannten Tiefe des Waldes bei Walbeck, seine Pferde angebunden stehen
ließ, und zu seinen Nachbarn zurückkehrte, die schon auf der
Lauer standen.
Bald hörten sie ein immer näherkommendes Blöken, und dann
das beantwortende Hundegebell; und nicht lange nachher sahen sie, bei
dem Dämmerlichte des Mondes, der durch das Gewölk blickte, eine
braune Gestalt auf Händen und Füßen, immer fort blökend,
in Hartungs Haus kriechen. Nun gruben die drei Nachbarn, unter dem in
einem Winkel des Hofes versteckten Nußbaume ein Grab, und dann schlichen
sie, in weiße Betttücher gehüllt, durch die nur angelehnte
Hinterthür ins Haus, und in die schwach vom Monde erleuchtete Stube.
Ilsabe lag wachend in ihrem Ehebette, und in ihren Armen schlief - Markus.
Erschreckt durch die Geistergestalten, sprang sie aus dem Bette, und versteckte
sich unter demselben. Ein Schlag von Hartungs Axt tödtete den Mönch,
und in der Kutte wurde er unter dem Nußbaume beigescharrt.
Hartung eilte zu seinem Wagen, fuhr nach Halle, kam mit der gewöhnlichen
Ladung zur bestimmten Zeit zurück, und fand keinen Verdacht gegen
sich.
Zwar war Markus vermißt, und man hatte an mehrern Orten nach ihm
gefragt. Denn der ganze Convent zu Konradsburg sah auf ihn als das würdigste
Subject zu der erledigten Würde eines Küchen- und Kellermeisters,
welche die nächste Anwartschaft auf die des Abtes gab. Inzwischen
beruhigte man sich dort, bei seinem Nichterscheinen, durch hundert laut
belachte Geschichten von seinen nächtlichen Streifzügen.
Aber Stangerode war, seit dem dritten Tage nach Markus Ermordung, ein
Ort des Schreckens und des Grausens. Nicht bloß im Mönchenholze
ging das blökende Ungethüm um, sondern es kam auch in die Häuser,
und setzte sich auf Männer und Weiber. Einige Ortsbewohner, und mit
ihnen auch Hartung und Ilsabe, verließen vor Schrecken ihre Häuser;
andere liefen nach Konradsburg, um einen Geisterbanner zu holen.
Dieser kam, traf den bekutteten Geist um Mitternacht in dem Holze, und
trieb ihn durch Weihwasser vor sich her. Aber aus dem vom Nußbaume
beschatteten Winkel war er nicht zu vertreiben. Nun kam, auf den abgestatteten
Bericht, am St. Thomastage der ganze Konradsburger Convent in feierlicher
Procession nach Stangerode. Man grub unter dem Nußbaum nach, und
fand den erschlagenen Mönch, und neben ihm die blutige Axt. In aller
Stille brachte man den Körper nach den Klostermauern zurück,
wo er mit Sang und Klang begraben wurde.
Ganz Stangerode zitterte vor der Wuth der hochgebietenden Herren. Es fürchtete
nicht ohne Grund, mit Feuer und Schwert verwüstet, oder doch ins
Interdict gelegt zu werden. Aber, sey es, daß man in Konradsburg
die genaue Untersuchung einer Geschichte scheute, die das tausendzüngige
Gerücht schon zu weit ausgebreitet hatte, oder, daß der Thäter
nicht zu entdecken war, oder, daß das Kloster auf die Ausfüllung
eines leeren Plätzchens im Märtyrer- und Heiligen-Kalender nach
Jahrhunderten speculirte; kurz, das Urtheil der dieß Mal nicht ganz
ungnädigen Herren fiel dahin aus: »Auf ewige Zeiten sollte
Stangerode, für den dort, an einem Amtsgeschäften begriffnen
Mönch, frevelhaft verübten Mord, einen Kuttenzins bezahlen,
und zwar jedes der dreizehen Häuser (aus so vielen bestand damals
der Ort) Einen silbernen Pfennig. Dieser Kuttenzins sollte alle Jahre,
am Sanct-Thomastage, von der ganzen Stangeröder Gemeine, bei namhafter
Pön einer Tonne Häringe für jede versäumte Minute
nach Sonnenaufgang, in einer feierlichen Buß-Procession nach Konradsburg
gebracht werden.«
Von diesem Thomastage an erschien der Geist des erschlagenen Markus nicht
mehr in menschlicher Gestalt, sondern entweder als Hund, oder als Kalb.
- Und noch jetzt läßt er sich zuweilen (doch der glaublosen
Zeiten wegen immer seltner), zwischen dem 20sten November und 20sten December,
als Kalb oder Hund im Mönchenholze sehen. Doch nur erleuchtete Geisterseher
sehen ihn. Andere hören sein Blöken, mehrere aber fühlen
seine zentnerschwere Last, wenn er sich auf ihre Schultern oder ihre Hüften
setzt, oder, als Alp, sie des Nachts auf ihrem Lager niederdrückt,
so daß sie kaum zu athmen vermögen.
* * *
Diese Volkssage, wahrscheinlich aus dem 15sten
Jahrhundert, unterscheidet sich von den meisten der ältern Volkssagen,
- welche die Namensbestimmungen selten ohne Veränderungen enthalten,
was oft bedeutende Verschiedenheiten in den Erzählungen veranlaßt,
- dadurch, daß das Volk die Namen: Hartung, Hiersche, Probst u.s.w.,
noch jetzt bei ihrer Erzählung nennt. Auch möchte dieß
ein Beweis seyn, daß hier ein wirkliches historisches Factum zum
Grunde liegt, das sich, bis auf kleine Umstände, dem Gedächtniß
fest eingedrückt hat.
Nur darin weichen die Erzähler von einander ab, daß sie den
erschlagenen Mönch bald mit, bald ohne Kutte verscharren lassen.
Der Ausdruck: Kuttenzins, der noch jetzt in den gerichtlichen Acten von
dieser Abgabe der Stangeröder Gemeine gebraucht wird, hat übrigens
von der Kutte, dem klösterlichen Obergewand, seinen Namen.
Noch behauptet das Volk, daß, wenn bei Abtragung des Kuttenzinses
die Amtsstube nicht geöffnet sey, so müsse das Amt, zur Strafe,
der Stangeröder Gemeine eine ganz weiße Henne mit zwölf
weißen Küchlein geben.
Die Abgabe von 13 Pfennigen, die uns jetzt so unbedeutend scheint, war
damals, als man für einige Pfennige ein Paar Schuhe, eine Tonne Bier,
einen Sack voll Getreide kaufen konnte, und wo baares Geld überhaupt
selten, in manchen Dörfern kaum zu finden war, keine so kleine Last;
zumal, wenn, wie die Sage will, ehedem nur die selten vorkommenden Thomaspfennige
angenommen wurden, die vielleicht erst mühsam aufgesucht, und mit
hohem Aufgelde eingewechselt werden mußten.
In unsern Tagen des Verschwindens alter Formen hat die Art der Entrichtung
des Kuttenzinses auch aufgehört. Im Jahre 1803 geschah sie zum letzten
Male auf obige Weise, und seitdem geschieht sie in aller Stille bei Tage,
durch den Bauermeister in Stangerode.
Volkssagen von Otmar, S. 203. - Annalen der Grafschaft Mannsfeld von 1806,
8s u. 9s St. - Anhalt- Bernburg. wöchentl. Anzeigen von 1806, 32s
Stück. - Halberstädter Neue gemeinnützige Beiträge,
1797, 20s Stück.
*) Schulze, Richter, Vorsteher der Gemeine.
**) In Endorf war unter andern auch ein solcher Außenhof von Konradsburg, aus welchem Umstande man die Entrichtung des Kuttenzinses daselbst erklärt.
***) So nennt das Volk in mehrern Gegenden Deutschlands
diejenigen, welche die Erbzinse, Rauchhühner u.s.w. einfordern.
Quelle: Friedrich Gottschalck, Die Sagen und Volksmährchen der Deutschen, Halle 1814