Das Himmelreich.
In dem lieblichen Thale, durch welches der Neckar sich schlängelt,
ragt, nicht weit von dem Städtchen Grundelsheim, ein steiler Berg
vor den andern Bergen weit hervor, auf dessen Gipfel eine, dem Erzengel
Michael geweihete, Kirche steht, die Himmelreich heißt. Von dieser
redet die Sage Folgendes:
Als noch finsterer Wald den ganzen Berg umgab, lebte hier, abgeschieden
von der Welt, der heilige Lukas. Frommen Betrachtungen und stillem Gebete
war sein Leben geweiht Wurzeln und wilde Kräuter aß er. Fand
er einen verirrten Wanderer, so labte er ihn so gut er's vermochte, und
brachte ihn dann wieder auf die rechte Straße.
Bald ging die Kunde von dem heiligen Manne in der Gegend umher. Viele
pilgerten nach seiner Hütte, und wer die Tröstungen des alten
Greises gehört, wen er gesegnet hatte, der fühlte sich heiterer
und kehrte mit mehr Ruhe im Herzen zurück.
Und immer mehr breitete sich der Ruf seiner Heiligkeit aus, und immer
zahlreicher pilgerte man nach der heiligen Höhe.
Schon bleichte Lukas's Haar, seine Rechte zitterte, und ein Knotenstab
unterstützte seine wankenden Schritte, da pochte es eines Abends
spät noch an seiner Thüre. Ein Pilger trat ein. Seine Kleider
trieften vom Regen, und erstarrt waren seine Glieder. Der Greis hieß
ihn willkommen, zündete eilig ein Feuer an, trocknete die Kleider
des Pilgers, setzte ihm Essen auf, und bereitete ein Lager von Moos. Andächtig
kniete er alsdann in einem Kämmerlein vor dem kleinen Hausaltare,
sein Abendgebet zu verrichten. Da trat der Pilger zu ihm ein. Aber sprachlos
staunte der fromme Lukas, als um des Fremden Stirn er einen Strahlenkranz
schimmern sah, der seine blöden Augen trübte.
»Dein Gebet ist erhört!« flüsterte der Engel des
Herrn; »gehe zur Ruhe!«
Er küßte den Sprachlosen auf die Stirn, da entfloh die Seele
mit ihm ins Paradies.
Todt fanden am Morgen den heiligen Mann einige Waller. Weinend begruben
sie ihn an jener Stelle, und baueten eine Kirche, dem Erzengel Michael
heilig.
Himmelreich heißt davon der Berg, und jährlich wallfahrtet
das Volk noch hinauf nach jener Kirche, um sein Gebet zu verrichten.
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Badensche Wochenschrift 1807.
Quelle: Friedrich Gottschalck, Die Sagen und Volksmährchen der Deutschen, Halle 1814