Die drei Schwestern aus dem See.
Was dem Städter im Winter Schauspiel, Oper und Ball ist, das ist
dem einfachen Landvolke die vertrauliche Spinnstube. In den langen Winterabenden
kommen da die Spinnerinnen zusammen, die jungen Bursche gesellen sich
dazu, man singt ein fröhliches Liedchen, man scherzt, man löset
Pfänder ein, oder erzählt sich Mährchen und Gespenstergeschichten.
So war es vor uralten Zeiten, und so ist es noch jetzt, im Süden
wie im Norden.
Auch in dem Dörfchen Epfenbach bei Sinzheim in der Unterpfalz kam
man von jeher so traulich zusammen, und setzte sich recht dicht um den
warmen Ofen herum, wenn's draußen stürmte und fror.
Aber damals traten, seit dem Gedenken der Aeltermutter, drei wunderschöne
weiß gekleidete Jungfrauen in den fröhlichen Kreis. Man harrte
ihrer jeden Abend mit Sehnsucht, und wie gute Engel nahm man die holden
Schwestern auf; denn sie brachten jeden Abend ein neues Lied mit einer
Melodie, ein munteres Spiel oder ein unbekanntes Mährchen mit. Jedermann
liebte sie, und besonders verweilten die Blicke der jungen Bursche mit
Wohlgefallen auf den schönen Zügen der Jungfrauen; aber eine
besondere Hoheit verscheuchte jede Vertraulichkeit. Auch sie brachten
immer ihre Rocken und Spindeln mit, und keine der Spinnerinnen übertraf
sie an Behendigkeit und ihre Fäden an Feinheit. So wie aber die Glocke
eilf schlug, so packten sie ihre Rocken zusammen, und nichts in der Welt
konnte sie bewegen, auch nur eine Minute länger zu bleiben. Fröhlich
und eilig verschwanden sie aus dem Kreise, wie sie gekommen waren. Keine
Spur verrieth ihren Weg, wenn sie »gute Nacht« gesagt hatten.
Niemand wagte es aber auch, ihnen nachzugehen. Man wußte nicht,
woher sie kamen, man wußte nicht, wohin sie gingen, man sah sie
nur in die Stube treten und wieder hinausgehen, und wenn man von ihnen
sprach, so hießen sie nur die Jungfrauen aus dem See, oder die drei
Schwestern aus dem See.
Alle jungen Bursche des Dorfs brannten im Stillen für die wunderbaren
Mädchen, keiner wagte aber seine Empfindungen gegen sie laut werden,
noch sie ihnen merken zu lassen.
Besonders heftigen Eindruck hatte ihr liebes Wesen und das Geheimnißvolle
ihres Aufenthaltes auf des Schulmeisters Sohn gemacht. Ihm that es so
leid, wenn sie gingen; ihm währte immer die Zeit zu lang, bis sie
wieder kamen, und war erst der Abend nahe, so dünkte ihm jede Stunde,
ehe er zur Spinnstube gehen durfte, eine Ewigkeit. Wenn sie nun hereintraten,
die holden Schwestern, ach! da verstrich ihm wieder die Zeit so schnell,
die Stunden verliefen wie Minuten, und immer meinte er, die alte Thurmuhr
tauge gar nichts, denn im Winter laufe sie täglich eine halbe Stunde
vor. Aber die Jungfrauen meinten, die Uhr gehe ganz recht, und kein Bitten
konnte sie bewegen, länger zu bleiben.
Lange sann der liebende Jüngling hin und her, wie er es wohl anfinge,
den Anblick der Unbegreiflichen länger zu genießen. Endlich
kam er auf den Gedanken, die Thurmuhr um eine Stunde zurück zu stellen,
um sie zu täuschen. Er that's.
Mit recht freudigem Behagen ging er nun in die Spinnstube; denn er sah
ja die lieben Mädchen heute eine Stunde länger.
Sie kamen, wie gewöhnlich, und brachten ein neues Lied mit einer
neuen Melodie mit, das sie die Anwesenden lehrten. Darüber wurde
der längere Verzug der eilften Stunde nicht bemerkt. Die Jungfrauen
blieben, bis die Glocke eilf schlug, und gingen also eigentlich erst um
zwölf Uhr weg. Fröhlich und heiter, wie sonst, schieden sie.
Darüber freute sich der gute Jüngling gar sehr, und beschloß,
diesen unschuldigen Betrug alle Abende zu wiederholen.
Aber er hatte sich vergebens gefreut. Als am folgenden Tage einige Leute
am See vorübergingen, siehe, da hörten sie ein klägliches
Gewimmer, und auf dem Spiegel des Wassers gewahrte man drei große
blutige Stellen, die jedoch niemand zu deuten wußte.
Des Schulmeisters Sohn hatte nichts davon erfahren. Er ging zur gewöhnlichen
Zeit in die Spinnstube, hatte auch wieder die Thurmuhr zurückgestellt,
aber - man harrte vergebens. Sie kamen nicht, und sind auch niemals wieder
gekommen, die lieben Schwestern.
Bald sagte dem trauernden Jüngling eine leise Ahndung, daß
er die Ursache ihres Verschwindens sey; daß wohl sein unschuldiger
Betrug ihren Lebensfaden zerrissen habe. Und das quälte und nagte
ihm an der Seele. Er schlich umher, ward bleich und krank, suchte Ruhe,
und - fand sie im Grabe.
* * *
Unersättlichkeit im Genusse tödtet den Genuß.
Wer auch die unschuldigste Freude eine Stunde, und immer eine Stunde länger
schmecken will, als Geschick, Zeit, Pflicht gestatten, der wird leicht
sich und andern verderblich. Hätte man diese Wahrheit in einer Dichtung
darstellen wollen, man hätte dazu nichts treffenderes finden können,
als die vorstehende Sage, welche aus der Badenschen Wochenschrift von
1807 genommen ist.
Quelle: Friedrich Gottschalck, Die Sagen und Volksmährchen der Deutschen, Halle 1814