10. Die wilde Jagd

Kühl war es geworden und die Sonne verschwand langsam hinter dem Horizont, als Knobel zielstrebig seine Schritte in die trockene Heidelandschaft setzte. Von ferne sah man noch die hellen Kalkwände, die das Maintal um Karlstadt begrenzten und der Boden war reich an seltsamen und stacheligen Gewächsen, in denen sich zuweilen das Beinkleid verfing. Bald wies ein tiefer Einschnitt in der Landschaft, von Drähten überspannt, dass sie das Ziels des Doktors erreicht. Die Sonne war untergegangen und nur noch schattenhaft waren Schwellen am Boden und Drähte über den Wandernden erkennbar. Knobel hub an, das größte Werk, das zu ermöglichen ihm die Gnade zuteil war, dem Geistermann anzupreisen. Dieser raunte jedoch nur, sie wären besser ein Stück weiter des Weges gegangen, denn um diese Zeit zögen die alten Geister auf Jagd und es wäre nicht heilsam, ihnen über den Weg zu laufen. Besorgt sah er dann zu den Masten und den Schienen. Der Doktor bemerkte, dass ihn das Gesehne bedrückte und versuchte, ihm zu vermitteln, dass hier ein langer Zug von Wagen verkehrte, die von einem roßlosen Wagen getrieben, der alle Kraft aus den Drähten über ihnen bezöge. Der Hoimann wollte jedoch nicht glauben, dass die Drähte so schnell seien.

Große Eile erfasste aber nun den alten Sauhirten, so dass Knobel ihm nur noch mit Mühe folgen konnte. Wolken verhingen die Sterne, ein Brausen kam auf, und der Hoimann sprach: "Es ist zu spät."

Gefasst ließ er sich auf einer der steinernen Schwellen nieder, als aus der Nacht ein steinalter Mann mit langem, weißen Haar auf die beiden zutrat. "Flieht", sprach er, "sucht eine Kuhle auf oder verbergt euch unter den Felsen, denn wer mir folgt, wird niemand verschonen." "Wohin denn, Eckart?" frug der Hoimann kopfschüttelnd, da erfüllte schon ein Brausen die Lüfte, im Licht eines grellen Blitzes sah Knobel die Frau Hulle mit ihrem Buckel und ihrem schweren Bettzeug auf den Schultern. Hinter ihr donnerten funkenstiebende Streitwagen heran, von feurigen Rossen gezogen, mit grausigen Gestalten auf ihnen. Einen mächtigen Speer sah Knobel in der Hand eines schaurigen Riesen, einen funkelnden Hammer schwang ein noch mächtigerer, doch unvermittelt standen die schrecklichen Jäger in einem fahlen Licht, das Brausen schwoll zu einem Dröhnen an, dann stob die Gesellschaft vor ei-nem silbern blitzenden Ungetüm auseinander. Hoch flogen die Federn aus dem Bettzeug der Frau Hulle, der Speer des Jägers zerbarst in tausend Teile, die Schlachtrösser mit den geisterhaften Reitern warden in Staub und schwarzen Nebel verwirbelt. Nur Splitter blieben von den mächtigen Streitwagen; der Hammer des Donnerers vor dem Troß bohrte sich mit einem heftigen Blitz und einem schweren Donnerschlag in den Hang, der den Schienenweg beiderseits begrenzte. Ohne seine Fahrt zu verlangsamen, bahnte sich das silberne Ungetüm tosend weiter seinen Weg und mit der Schnelle eines Flügelschlages war es den Augen des erschreckten Doktors entschwunden. Dann trat eine Stille ein, noch gespenstischer als die vielen unheimlichen Ereignisse zuvor, und nur noch die Federn der Frau Hulda sanken, kalt wie Eis, langsam herab.

* * *

Einen leichten Schwindelanfall hatte Knobel zu überwinden, bevor er das hohe Gras wieder verliess. Er sah, dass seine Schuhe voller Lehm hingen und wischte ihn leise fluchend mit einem Grasbüschel ab, so gut es ging. An seinem Wagen angelangt, bemerkte er, dass es schon reichlich spät war und er wohl nicht mehr rechtzeitig zu seiner Tagung eintreffen würde.

Das Telefon piepte und Knobel nahm das Gerät ans Ohr. Seine neue Fachreferentin meldete sich und teilte ihm mit, dass sein Kollege und ehemaliger akademischer Lehrer Dr.Klingenberg plötzlich und unerwartet verstorben sei. Die Veranstaltung in Wertheim würde deshalb etwa eine halbe Stunde verspätet beginnen.

Knobel nutzte die Gelegenheit, um seine Schuhe noch etwas gründlicher zu säubern und seine Hose abzuklopfen. Leicht verstört setzte er sodann seine Fahrt fort und mußte zusehen, dass ihn die wirren Gedanken, die in seinem Kopfe umhergingen, nicht von der Fahrbahn abbrachten. Wenige Kilometer weiter verließ er das Maintal, über das langsam weiße Nebelschwaden hinwegzogen. Nach einer kurzen Strecke durch den Wald war er in offenem Land angelangt, wo bald die ersten Schilder mit dem Ziel Wertheim auftauchten. Auf dem Rückwege, so be-schloss Dr.Knobel indessen, würde er einen anderen Weg nehmen.

Quelle: E-Mail-Zusendung von Hartmut Haas-Hyronimus, vom 8. November 2004, Hoimanns Erzählungen, Nr. 10.