13. Der Wendelstein
wenn man heute durch die Gegend zwischen Wiesbaden, Frankfurt, Darmstadt
und Aschaffenburg kommt, sieht man weit und breit nur flaches Land; die
höchste Erhebung ist gerade 5o Meter hoch. Früher stand hier
ein mächtiger Bergriese, der Wendelstein. Er reichte von Frankfurt
bis tief in den Spessart hinein und schloß sich direkt an den Odenwald
an, dessen höchsten Berg er um das dreifache überragte. Den
Leuten in Hessen galt er als heiliger Berg. Einmal im Jahr, am Dienstag
nach Pfingsten, pilgerten viele fromme Leute aus dem Umland auf den Gipfel
des Bergs, wo ein heiliger Eremit namens Wendelin seine Klause hatte.
Die Städte Frankfurt und Darmstadt - Offenbach gab es damals noch
nicht - waren dann menschenleer und von ferne sah man die vielen Leute
auf dem Berg, die dessen dunstig blaue Farbe langsam in ein tiefes Grau
verwandelten. Dieser Tag galt den Frankfurtern als der höchste Feiertag
im Jahr und auch heute noch wird am Dienstag nach Pfingsten dort nicht
gearbeitet.
Als im Laufe der Zeit viele Menschen aus den umliegenden Ländern
nach Hessen kamen und die Fahrt zum Wendelstein durch den Gebrauch motorengetriebener
Automobile weniger beschwerlich wurde, geriet der Sinn des Wendelinstages
langsam in Vergessenheit. Ganze Heerscharen von einfach nur Freizeithungrigen
machten sich an vielen Tagen im Jahr auf die Reise zum Gipfel des Wendelstein
und am Wendelinstag standen die stinkenden Karren der ungebetenen Wendelinsgäste
so eng an den Biegen zum Gipfel des Bergs, daß viele von ihnen nicht
umkehren konnten und sich der Berg oft erst spät in der Nacht leerte.
Vor der geheiligten Wohnstätte des Wendelin hielten Händler
Bratwürste, Bier und allerlei Tand feil und am nächsten Morgen
zeigte sich der Berg jedesmal in einem sol-chen Schmutz, daß sich
der Eremit beim Heraustreten aus seiner Klause für seine Besucher
schämen mußte.
"Ach Herr!", rief er schließlich, "ist das noch ein
Platz für einen Heiligen? Wäre ich doch in meiner oberbayerischen
Heimat geblieben!" "Hast Du den rechten Glauben?", erscholl
da eine Stimme vom Himmel, "Dann weißt Du doch, daß der
Glaube Berge versetzen kann." Wendelin erkannte die Stimme seines
Herrn, fiel auf die Knie, und sein Gebet wurde erhört. Den Wendelstein
findet man seither im Voralpenland südlich der Stadt Rosenheim. Auch
die frommen Orte Fischhausen, Fischbachau, Litzldorf und Windshausen begleiteten
den Heiligen und seinen Berg nach Oberbayern, wo die Bewohner ein beschauliches
Dasein fristen, fernab des Verkehrs, des Gestanks und dar Betriebsamkeit
des südlichen Hessenlands.
Die Gegend, wo früher der Wendelstein gestanden hatte, war eine Zeitlang
öd und leer, da sie aber fruchtbar war, wurde sie langsam wieder
besiedelt. Auch die von dort verschwundenen Orte baute man an anderer
Stelle wieder auf, dabei wurde allerdings aus Fischbachau Fischbachtal,
aus Litzbach Lützeldorf und aus Windshausen Wixhausen. Da die Gegend
südlich von Frankfurt nun offenes Land war, baute man dort eine neue
Stadt und nannte sie Offenbach. An den Wendelstein erinnert nur noch eine
Straße in Haibach, wo früher mit dem Aufstieg begannen hatte.
Die Orte in der Gegend südlich von Frankfurt sind natürlich
nicht so alt und malerisch wie die einstigen, sie wirken eher langweilig
und es gibt viele Fabriken dort. Den Wendelinstag feiern die Leute allerdings
immer noch am gleichen Tag, nur heißt er jetzt "Wäldchestag".
An demselben fahren die Frankfurter und Offenbacher auf den nördlich
gelegenen Feldberg oder in den Stadtwald, wo sie schmausen und feiern
und den Wald im gleichen Zustand zurücklassen wie früher den
Wendelstein.
Weil die Gegend nun so flach ist, und die Landbewohner das Fahren auf
dem steilen Wendelstein nicht mehr gewohnt sind haben viele von ihnen,
vor allem die Offenbacher, das Steuern ihrer Motorkutschen fast ganz verlernt
und gelten weit und breit als die schlechtesten Fahrer. Vor allem die
Bewohner des Spessarts haben zu klagen, wenn an den Wochenenden viele
Offenbacher, die nach den Resten des Wendelsteins suchen, die Wege unsicher
machen. Man sagt allerdings, daß es auf dem Wendelstein in Oberbayern
auch nicht mehr so ruhig zugeht wie früher und viele Bewohner des
Rodgaus glauben fest daran, daß der Berg eines Tages wieder zurückkommt.
Quelle: E-Mail-Zusendung von Hartmut Haas-Hyronimus, vom 8. November 2004, Hoimanns Erzählungen, Sage Nr. 13