3. Die wahre Geschichte vom Krämer und der Schneeweiß
In einem kleinen Städtchen am Rande des Spessarts lebte einst ein
Krämer, dem sein Geschäft nicht genug war und der sich also
auch um das Gastgewerbe sorgte, für das er im Vorstande tätig
war. Nicht sehr zum Gefallen der Teilnehmenden verlief dort der Alltag,
denn die Stadt war im Inneren wohl nett anzusehen, außenherum wucherten
jedoch häßliche Hallen, die Rauch über der Stadt verbreiteten
und auch im Inneren hatte so mancher derbe Klotz aus Stein die einst schmucken
Fachwerkfassaden unterbrochen. So gelang es oft nur mit Mühe, zahlende
Gäste in die Pforten der Stadt zu locken und keiner neidete dem Krämer
sein Amt.
Nichts aber ließ indessen der Krämer unversucht, um die wenigen
erfreulichen Eigentümlichkeiten seiner heimatlichen Gefilde hervorzuheben.
Und als er eines Tages von einer Reise aus dem hessischen zurückkam,
von einem Ort, wo dereinst so mancher kleinwüchsige Mann seine schwere
Arbeit unter Tage hatte verrichten müssen, vermerkte er verwundert,
dass es g-rade sieben Berge waren, die er zu überqueren hatte und
just stand in seiner Stadt ein kleines Schloss und Spiegel waren dereinst
hier auch trefflich fabriziert worden.
Nun fehlte noch ein verstossenes Töchterlein aus fürstlichem
Haus, das sich in den Annalen der Stadt schnell fand, und schon konnte
der Krämer mit der erstaunlichen Neuigkeit vor die Gelehrten der
Historie der Stadt treten, dass es nur hier hätte sein können,
wo das Schneeweiß und die böse Königin gelebt. Und die
sieben Berge, die er überschritten, hätten dereinst zu den sieben
Zwergen geführt, die dem Boden Erz und Silber hätten abgerungen.
Das Spieglein an der Wand, das der Königin den Weg zur Tochter gewiesen,
sei ebenso aus den alten Manufakturen der Stadt gekommen, wo noch so manche
davon im alten Schlosse hingen.
Das war wohl, so wußte der Krämer, nicht recht, aber der Überschwang
der Gefühle, den die Neuigkeit bei den Gelehrten der Stadt auslöste,
riß auch ihn mit, so dass keiner daran dachte, die Nachricht auf
eine Probe zu stellen. Bald konnte man statt-dessen auf den Blättern
und Aushängen der Stadt ringsumher und im ganzen Land nachlesen,
dass hier die Heimat des Schneeweiß gewesen sei und die Stadt füllte
sich bald mit Reisenden, die seine Wohnstatt in Augenschein nehmen wollten.
Groß war die Freude der Wirte und Herbergsleute der Stadt und der
Ruhm derselben machte auch vor den Grenzen des Landes nicht halt.
Weithin konnte sich der Krämer in den Blättern und Postillen
seiner Entdeckung rühmen und es gab nicht einen, der ihn darob mit
genierlichen Fragen behelligte.
Wenig hatte der Entdecker der Prinzessin aus dem Mär nun noch mit
seinem Geschäfte zu tun. Stetig reiste er als Werber für die
Stadt umher und oft war schon die Nacht hereingebrochen, bevor er in seiner
Behausung ankam. Große Plätze und Häuser waren bereits
in der Stadt angelegt worden, um den Gefährten der Gäste Platz
zu geben. In ein solches, just unter dem Schlosse, steuerte der Mann nun
eines abends seine Karosse, müde von der langen Fahrt und angestrengt
von dem schlechten Wetter und dem Dunst, der ihn bis hierher begleitet
hatte. Eng schien ihm diesmal die Einfahrt und der Winkel, den er für
seinen Wagen fand, dünkte ihm ungewohnt abgelegen. Lange irrte er,
den Ausgang suchend, umher und die Tür, die ihm schließlich
den Weg ins Freie wies, war sonderbar eng und niedrig. Statt auf dem Pflaster
vor dem Schloss stand er unversehens auch in einem dunklen, seltsamen
Raum, vor ihm stand ein Tisch, gedeckt mit halbleer getrunkenen Krügen
braunen Biers und Resten einer Mahlzeit von Räucherschinken, grobem
Brot und Käse, dahinter ein Lager und altes Mobiliar. Der Krämer,
hungrig und durstig von der Fahrt, wähnte den Tisch von Gästen
verlassen, nahm einen Schluck Biers und einen Bissen vom Schinken, bevor
er dem Lager zustrebte, um sich ein Weilchen niederzulassen. Da liessen
sich schnelle Schritte vernehmen, zwei kleine, kräftige Männer
bemerkten mit einem erstaunten Ausruf ihr angebrochenes Mahl und dann
sogleich ihren Gast. Ohne nach dem Woher zu fragen, ergriffen sie ihn
und schleppten ihn mit Knüffen und Tritten in einen Nebenraum, wo
eine größere Anzahl der Kleinwüchsigen um ein stattliches
Weib mit wuchtigen Hüften und bleichem Gesicht unter vollem, dicken,
schwarzen Haar überrascht zu ihm aufsah. Was er wolle, fuhr das Frauenzimmer
ihn an und zwei der Wichte suchten verstohlen, Glitzerkram und glänzendes
Metall vor seinen Augen zu verbergen. Er habe in der Dunkelheit den Weg
verfehlt, entgegnete der Gefragte, und wolle nichts als ins Freie hinaus.
Wo er sei, wollte er noch fragen, dies blieb ihm jedoch im Halse stecken,
denn ein Haufen der Kleinen brachte soeben eine ganze Karosse in die Höhle
des schwarzen Weibes mit dem fahlen Gesicht, das er voller Entsetzen als
das Weib auf seinen Anschlägen erkannte, die Schneeweiß. Sie
sollten das Zeug abstellen und verschwinden, bedeutete sie den Männlein,
doch im Hinausgehen ergriff der Krämer doch die Gelegenheit, einen
derselben zu fragen, ob denn wirklich die Schneeweiß hier weilte
und nicht in einem gläsernen Sarg von einem Fürstensohn mitgeführt
und nach ihrem Erwachen geehelicht ward. Er habe richtig gesehen, bekräftigte
der Kleine, doch der Schneeweiß Fürstenhochzeit solle er vergessen.
Kein Apfel, sondern ein Unmaß an Schnaps sei es gewesen, das die
Schneeweiß einst niedergeworfen habe, so dass man sie für tot
gehalten. Nun habe aber, nachdem die Schneeweiß ihren Rausch ausgeschlafen,
der gläserne Kasten unnütz herumgestanden und so habe man Jungfern
geworben, die gern einem Fürsten angetraut sein wollten, und die,
welche die Mär beschrieben, habe dafür fünfzig Taler aus
zweifelhaften Geschäften aufgebracht.
Nicht weniger als neunzehn Maiden habe die Schneeweiß so in hohe
Häuser verbracht und sie alle hätten sich erkenntlich gezeigt
und sie auch weiterhin bei ihren Räubereien unterstützt.
Als dann die Männlein draußen waren, griff das Schnneweiß
den Krämer am Hemde, warf ihn auf das Lager und er spürte schon
den Druck ihrer kraftvollen Schenkel, als ihm in höchster Not der
Gedanke kam, mit einem Lumpen auf das kärgliche Licht zu werfen und
im Dunkel konnte er sich der strammen Komteß entwinden. Er fand
die Tür und stolperte durch finstere Gänge, hinter sich hörte
er schauerlich hallen die festen Tritte der Schneeweiß. Triefend
vor Angstschweiß gelangte er ins Freie, wo er sich in einem Hinterhof
fand und erst eine Mauer überklimmen mußte, bevor er auf dem
Schloßplatz stand und eiligen Schritts seiner Behausung zustrebte.
Wie ein Stein schlief er und am nächsten Morgen war sein erstes Vorhaben,
dass er zum Bürgermeister ginge und ihn beschwören wollte, die
Stadt möge für die Schneeweiß nicht längere Zeit
als Heimstatt herhalten, denn in Wahrheit handele es sich hierbei um finstere
Gestalten, deren Geschäfte der Stadt nicht zum Ruhme gereichten.
Dieser aber sah ihn aber nur mit faltiger Stirn an und frug ihn dann,
ob er denn auch gut geruht habe und sich wohl fühle. Sodann hörte
man ein Poltern im Nebenraum und der Krämer sah zu seinem unendlichen
Schrecken am Revers des Amtsträgers einige der dicken, schwarzen
Haare haften, die er am Vorabend auf dem Kopfe der Schneeweiß gesehen.
Hinter der Tür zum Nebenraum hörte er nun ein Fauchen, das er
wohl kannte. In dem Nebenraum war nun aber sonst immer der Stadtkämmerer
zu finden, der sicherlich nun das Opfer der Schneeweiß geworden
war. Hastig verabschiedete sich der Krämer, eilte die Treppe hinunter
und machte sich kummervoll klar, dass er bei den Herren der Stadt das
Spiel verloren, weil gegen die furchtbaren Waffen der Schneeweiß
niemand derselben gefeit war.
Aber auch die kleinen Gehilfen des Weibs konnte er bald darauf in der
Stadt ihr Unwesen treiben sehen: In den Straßen der Stadt rissen
sie die Wege auf und stellten davor Schilder auf, mit denen sie die Besucher
der Stadt und selbst die Bewohner in die Irre lockten. Blieben sie dann
aber in einer der engen Gassen der Stadt stecken und wußten nicht
mehr aus noch ein, kamen zwei grüngekleidete Zwerge daher und begehrten
ein Wegegeld von den Kutschern. Am Markte und ringsumher hatten die Wichte
alten Krempel aus den Kaufhäusern auf die Plätze und Gassen
geschafft und ließen keinen Fremden vorbei, bis er eines der schlichten
Stücke zu einem Wucherpreis erstanden hatte. Zuflucht suchte der
Krämer schließlich auf einem großen Feste in einem Schankzelt,
mußte aber auch dort sogleich wieder der Schneeweiß Zwerge
erblicken, und es waren weit mehr als sieben geworden: hier verkaufte
einer den Kindern nutzlose Papierchen und gaukelte ihnen vor, dass sie
allerlei Tand dafür erhielten. Öffneten sie sie, war das Papier
jedoch leer; dort schritt einer, mit zwei schweren Krügen und einer
Schweinskeule versehen, an einen Tisch und nahm den Zechern dafür
eine ganzen Taglohn. Am anderen Ende waren zwei der grünen Wichte
eines armen Mannes in einer offenen Karosse habhaft geworden, der dann
erst einen Sack mit Luft füllen mußte und dem sie dann sowohl
seinen Wagen wie die Permiß zu Fahren nahmen. Durch den Hintereingang
begab sich der Krämer auf den Weg zurück in die Stadt, bemerkte
zu seiner Überraschung einen neuen Fußweg dorthin, sah sich
da aber unversehens wieder in den Gängen und Gewölben, die zur
Schneeweiß führten. Lärm und Geräusche hörte
er schließlich hinter einer Wand, öffnete einen Verschlag und
fand sich im Gewölbe einer Schenke, wo aber zu seinem Schrecken zwei
braungeschürzte Wichte die Bewirtschaftung übernommen hatten
und einer davon einer Gesellschaft taumelnder Fremder, die kaum noch bei
Sinnen waren, die Tafel überreich und fett deckte. Schwer atmend
stürzte der Krämer zurück, fand wieder eine Tür und
landete schließlich zu seiner Erleichterung im Rathause bei den
Amtsstuben, wo er rasch einen Weg ins Freie fand.
Nun aber hatte der gute Mann für den nächstfolgenden Tag einen
Auftritt mit Kundschaftern ferner Länder anberaumt, die seine Neuigkeiten
noch bis in den letzten Winkel der Erde verbreiten wollten. Dort war wohl
vorgesehen, dass er für seine Stadt als den Stammsitz der schönen
Märchenprinzessin Beweis führte, er aber nahm sich vor, der
ganzen Welt die Wahrheit zu offenbaren: Freiweg wollte er berichten, dass
er die Geschichte vom Schneeweiß nur erfunden und dass es sich beim
Schneeweiß bestenfalls nur um eine Räubersbraut handele, die
man woanders suchen solle. Als er aber vor der Schar der wißbegierigen
Berichterstatter seine harten Worte sprechen wollte, da verspürte
er eine grobe Hand auf seiner Schulter und dichte, schwarze Haare, die
seine Wange streiften. Nicht wagte er, sich umzusehen und, selbst weiß
wie Schnee, berichtete er den Herren aller Länder, dass das Schneeweiß
allhier geboren, vor der bösen Stiefmutter zu den sieben Zwergen
geflohen und dass das Schloss der Stadt nun wohl das aus dem Märchen
sei. Und es ward in gar viele Länder unter dem ganzen Erdkreis verbreitet,
und von fern über das große Wasser kamen von nun an die Reisenden
zu dem Schneeweiß und seinem Schloß.
So kommt es, dass die kleine Stadt am Rande des Spessarts auch heute noch
als die Heimstatt der Schneeweiss allerorten angepriesen wird. Jüngere
Aushänge und Flugschriften zeigen den Ort indessen aber auch als
einen Hort der Spessarträuber, und deren einige und gar manche Räume
des kleinen Museums der Stadt zeigen Bilder der verwegenen Gesellen. Wer
aber sich dahinter verbirgt, das erfährt der Besucher nicht.
Quelle: E-Mail-Zusendung von Hartmut
Haas-Hyronimus, vom 8. November 2004, Hoimanns Erzählungen, Trilogie/3