6. Der verschollene Rittersmann


Jeder in dem lieblichen Stück Frankenland, das vom Mainviereck umflossen wird, kennt die Geschichte vom Kaiser Karl, der sich beim Jagen in der Nähe des Klosters Einsiedel im Walde verirrte und von dem Glöcklein der frommen Mönche wieder auf den rechten Weg gebracht wurde. So soll er den Mönchen aus Dankbarkeit gar das Kloster Neustadt geschenkt und seine Tochter Gertrudis dort ein- und ausgegangen sein.

Eine Legende derselben Art ist wohl wahr, nur handelte es sich bei dem Verirrten nicht um den Kaiser Karl, sondern um den Raubritter Hugo von Rieneck, auch war er nicht beim Jagen, sondern stellte Reisenden nach und er wurde auch nicht von einem Glöcklein bei Einsiedel errettet, sondern geriet im tiefen Wald hinter Rothenbuch in immer tiefere Wildnis, wo ihn keiner mehr fand.

Groß war darob die Trauer im Hause der Grafen von Rieneck, denn er war des letzten Grafen einziger Sohn gewesen und das Geschlecht war mit ihm untergegangen; sein Besitz fiel an die Mainzer Erzbischöfe, die einstigen Erzfeinde der Rienecker. Den Ritter Hugo tilgte man indessen aus allen Annalen, denn er hatte über Land und Volk nur Unheil gebracht und hätte den Namen der einst mächtigen und edlen Rienecker befleckt.

Der schreckliche Ritter kam indessen in der Wildnis nicht zu Tode, sondern geriet in eine tiefe Höhle, wo er bald in seltsame Gemächer kam, die über und über mit Edelsteinen und glänzendem Metall bespickt waren. Seltsame, schwere Düfte durchzogen die Räum, dem Ritter warden die Glieder schwer und er sank in einen tiefen Schlaf, in dem er mehrere Jahrhunderte verharrte.

Eine andere Legende erzählt, Kaiser Karl habe bei seinem Ausritt nach langem Umherirren das Lärmen von Waldarbeitern gehört und sei in der Nähe von Aschaffenburg wieder auf eine Siedlung derselben gestoßen, die er dafür reichlich belohnt habe. In der Tat weckte das Lärmen von Holzfällern und großen Räumfahrzeugen für einen Straßenbau einen Mann von edlem Geblüt, aber eben nicht den Frankenkaiser, sondern den wilden Ritter Hugo. Verwundert rieb sich der Edelmann die Augen, trat durch einen Spalt, der sich in seiner Höhle aufgetan hatte, ins Freie und sah sich in seinem Wald wieder, der noch groß, aber bei weitem nicht so dicht und unwegsam wie ehedem war.

Großer Hunger beschlich Hugo, der so lange gedarbt hatte und sein Auge suchte nach einem Wege, der zu einer Herberge führte. Da erblickte er am Boden eine gläserne Fla-sche, und als er sie genommen, sah er papierene Behältnisse und viele Hüllen aus glattem, buntem Harz, deren immer mehr auf dem Boden lagen, je weiter ihn seine Schritte führten, als ob sie ihm einen Weg weisen wollten. Schließlich kam er vor den Toren der Stadt Aschaffenburg an eine Schänke, die von grellem Lichte erhellt war und vor der eine große Zahl pferdeloser Kutschen bald stand, dann eilig wie der Wind wegfuhr, wobei die Führer solcherlei Hüllen und Flaschen, wie er sie reichlich auf dem Weg gefunden, aus dem Fenster warfen. Und vor dem Gasthause trieb ein buntgekleideter Spaßmacher mit rot-weiß bemaltem Gesicht sein Unwesen, der einer Schar von Kindern um sich herum so kunstvoll die Speisen und Süßigkeiten des Hauses anpries, dass ihre Eltern nicht umhinkamen, diese ihnen zu erwerben, obwohl es für die kleinen des Guten oft zuviel war und viele von ihnen sich schon kugelrund gefressen hatten.

An der Schänke sah der Rittersmann nun große Schilder mit fetten Ochsen und knusprigem Brot und vermeinte, dass ein solcher für ihn nun gerade recht wäre. Er reihte sich in die geduldig wartenden Gäste ein, begehrte von der Küche Ochsen und Brot, erhielt aber zu seiner großen Verärgerung nur ein Scheibchen gebratenen Fleischteigs in einer schlaffen Brothülle, wie man sie einst für die Zahnlosen gebacken. Und als er sich anschickte, mit zwei Goldstücken, mit der wohl ein ganzer Ochs hätte erworben werden können, zu zahlen, da wies der Kassier die auch noch ab, weil sie nicht aus Papier wären.

Da fuhr dem Ritter die Zornesröte ins Gesicht, und mit einem Wutschrei verlangte er nach dem Wirt der Herberge. Der kam herbei, musterte ihn dann aber mit ratlosem Blick und winkte aus einer Ecke zwei seiner Gehilfen hinzu. Diese aber, so bemerkte der furchtbare Ritter Hugo, versuchten seiner habhaft zu werden, und er hörte mit Erschrecken, dass man ihn in die Stadt Lohr verbringen wollte, dorthin, wo er einst die armen Teufel, die den Verstand verloren, hinter dicken Mauern hatte schmachten lassen. Mit der ganzen Kraft eines Raubritters befreite er sich, floh in den Wald zurück und ward nicht mehr gesehen.

Erschrockene Wandersmänner erzählten später von einem finsteren Fremdling im Walde bei Haibach, der den roßlosen Kutschen auflauere, die aus der Herberge mit den falschen Ochsen kämen und die darin sitzenden in einen Bau tief im Wald brächte, um an ihren Kindern seinen Hunger zu stillen. Man hört indessen häufiger, dieselben hätten bloß, von vielen schmalztriefenden Mählern rund und unbeweglich geworden, nach dem Verrichten ihrer Notdurft nicht mehr den Weg aus dem Walde zu bewältigen vermocht und so manche hätten auch nicht aus den Unratbergen daselbst herausgefunden.

Quelle: E-Mail-Zusendung von Hartmut Haas-Hyronimus, vom 8. November 2004, Hoimanns Erzählungen, Sage Nr. 6