9. Der Lindwurm von Aschaffenburg

In der Rückersbacher Schlucht, zwischen Aschaffenburg und Kahl, lebte einst ein schrecklicher Lindwurm.

Leute, die dort vorbeifuhren, sahen oft in der Nähe der Schlucht giftige, stinkige Wolken aufsteigen. Wenn der Wurm seinen feurigen Atem herausblies, ward die ganze Gegend westlich der Schlucht versengt und sieht heute noch teilweise wie eine Mondlandschaft aus.

Vor allem aber hatten die Orte in der Umgebung der Schlucht zu leiden. Wenn der Wurm irgendwo auftauchte, meist geschah das an einem Wochenmarkt-, ließ er von Verkaufsständen und Lagerstätten nichts übrig; ganze Ortschaften wie Kleinostheim, Dettingen oder Kahl, das daher seinen Namen hat, hatten manchmal im Winter nichts als Kartoffeln zu essen und nur noch wüste Felder um sich, so gründlich räumte der Lindwurm auf.

Die Aschaffenburger fühlten sich vor dem Lindwurm sicher, weil die Stadt damals von einer Stadtmauer umgeben war mit Türmen und einer Burg davor, so daß der Lindwurm nicht hineinkommen konnte. Sie machten sich zuweilen sogar über die Nöte der Nachbarorte lustig und hielten, wenn man wieder vom Lindwurm gehört hatte, einen Sondermarkt ab.

An einem Tag im Oktober, dem Wolfgangstag, geschah es aber, daß ein Bauer eine Ladung mit Wackersteinen nicht ordentlich abgestellt hatte, so daß sein Wagen neben dem Schloß eine abschüssige Gasse hinunterrollte und ein Loch in die Stadtmauer schlug. So konnte der Lindwurm in die Stadt kommen. In wenigen Stunden hatte der Wurm die ganzen Läden der Innenstadt leergefressen, die Grabkirche im Schöntal zertrümmerte und die Stadtmauer beim Herstallturm beseitigt und kroch nun feuerschnaubend zurück zum Marktplatz am Schloß, den er in kürzester Zeit leerfraß und dem Erdboden gleichmachte.

Am schlimmsten war aber, daß der Lindwurm nun wußte, wie man in die Stadt gelangte, und an jedem Wochenende den Markt abräumte, bevor die Händler auf ihre Kosten gekommen waren. Solches ist einem Aschaffenburger aber ganz und gar unerträglich, und man beratschlagte, was gegen das Untier zu unternehmen sei, ohne jedoch eine Lösung zu finden, da einige der Händler von nun an immer einen Lindwurmaufschlag verlangen konnten, der sie gut leben ließ, auch wenn sie nur eine Stunde lang ihre Waren feil zu halten Gelegenheit hatten. So wehrten sich viele der Marktleute gegen Maßnahmen zur Vertreibung des Wurms und sahen es wohlwollend, wenn er den Leuten die Küchen leerfraß, weil sie dann manchmal mehrmals am Tag bei ihnen einkaufen mußten.

An einem solchen Samstag hielt jedoch erstmals eine Marktfrau namens Elise aus Jena, nach ihr ist die Elisenstraße und das Jenaer Glas benannt, ihre Waren feil. Es waren feuerfeste Töpferwaren und Küchengerät, so handfest wie die Marktfrau selbst, die schon manchen Räuber, aber auch unliebsame Gendarmen mit ihrem Kochlöffel in die Flucht geschlagen hatte. Diese Marktfrau Elise ergriff nicht wie die anderen die Flucht, sondern warf, um den Kunden die Vorzüglichkeit ihrer Waren zu beweisen, dem Untier die besten ihrer feuerfesten Schüsseln und Töpfe ins Maul, worauf der Lindwurm einen Hustenanfall bekam und ihm das Feuer aus Nase und Uhren flog, jedoch sein Atem seine Gefahr verlor. Der standhaften Marktfrau gelang es nun, mit einer schweren Bratpfanne den Lindwurm zum Einhalten zu zwingen und nach mehreren schmerzhaften Schlägen auf seine in der Kälte empfindliche Nase zog er sich in die benachbarte Johannesburg zurück.

Dort aber hatte sich ein tapferer Glockenspieler auf den Turm begeben und bewarf den Wurm mit den schwersten der Spielglocken, die das Johannisburger Carillon trug. Eine traf ihn so gezielt am Kreuz, daß er sich nie mehr richtig krümmen konnte. Der Lindwurm verließ daraufhin auf Nimmerwiedersehen die Stadt und haust seither an der Mainbeuge bei Stockstadt, wo er über einen Schlot seine giftigen Dämpfe abläßt. Das Glockenspiel des Aschaffenburger Schlosses klingt aber seit diesem Tag etwas schräg, da einige Glocken beim Wurf etwas verbogen wurden.

Da die Stadtväter aber hin und wieder den Markt an eine andere Stelle zu verlegen, findet sich nicht immer eine Marktfrau, die den Lindwurm daran hindern könnte, in die Stadt zu kommen. Deshalb führen die Aschaffenburger die Straßen, die in die Innenstadt gehen, an vielen Stellen im Kreis herum, denn hier kommt der Wurm mit seinem steifen Kreuz nicht durch und muß unverrichteterdinge wieder umkehren. So haben sie sichergestellt, daß ihnen niemand mehr an den Markttagen die Läden ausräumt.


Quelle: E-Mail-Zusendung von Hartmut Haas-Hyronimus, vom 8. November 2004, Hoimanns Erzählungen, Sage Nr. 9