4. Der Hirschenwirt von Lohr
In dem kleinen Spessartstädtchen Lohr stand einst am Matktplatz der
stolze Gasthof zum Hirschen, dessen Wirt aber nichts zum Ruhme des Hauses
beitrug, denn er war bekannt dafür, daß er seinen Wein, je
nach Beliebtheit der Gäste, mit unterschiedlichen Mengen Wasser versetzte.
Die Strafe hierfür ereilte ihn, als eines Tages drei Zwerge unerkannt
im Gastraum saßen und ebenfalls solcherart gestreckten Wein vorgesetzt
bekamen. Diese waren nämlich des Zauberns mächtig und hexten
den betrügerischen Wirt in eine Flasche.
Besagte Flasche soll lange in einem Waldstück im Rechtenbachtal gelegen
haben, ob der Wirt aber jetzt noch in seiner engen Behausung sitzt, ist
mittlerweile fraglich: denn als den Stadtherren vor einigen Jahren der
Markt nicht mehr genug einbrachte, ließen sie den daselbst stehenden
Gasthof zum Hirschen kurzerhand abreißen und ein Kaufhaus hinbauen.
Das brach das Herz des verzauberten Hirschenwirts, mit ihm wohl aber auch
die ihn umgebende Flasche. Wanderer fanden an seiner Gefängnisstätte
in der Waldgemarkung "Im Dunkel" Glasscherben im Rechtenbach,
worauf sie und viele Bürger befürchteten, der Wirt sei wieder
frei und wolle sich für das erfahrene Leid an den Lohrer Wirten,
deren nicht wenige gestreckten Wein angeboten, die aber nicht verhext
worden waren, gütlich tun.
Es schien fortan in der Tat, als verdürbe der Verhexte ihnen mit
Fleiß ihr Geschäft. Zuerst soll dies ein Wirt am Rathaus, der
immer sein Rivale gewesen war, zu spüren bekommen haben. Man erzählt,
der Hirschenwirt. habe in einer der Gaststuben des Wirts gesessen und
wie viele andere Leidensgenossen vor ihm umsonst der Gastfreundschaft
des hochmütigen Herrn des Hauses geharrt. Als er diesen schließlich
laut mit seinem Vornamen gerufen habe, sei er von ihm kurzerhand vor die
Tür gesetzt worden. Von diesem Zeitpunkt an war der Ofen des Wirts,
in dem er an jedem Abend eine große Zahl köstlicher Brezel
buk, leer, sooft auch ein Gast um ein Stück des knusprigen Gebärks
ersuchte. Auch seine kunstvoll gefertigten Gläser verschwanden eins
nach dem anderen, worauf jeder Gast den Preis seines Glases immer auf
den Schoppen daraufgeschlagen bekam. Der Wirt bestellte schließlich,
um den Hunger seiner Gäste zu stillen, einen neuen Ofen, mußte
jedoch so lange auf denselben warten, bis kaum noch einer nach dem Gebäck
fragte. Dann aber lieferte man ihm zu seiner Überraschung gleich
drei Backöfen. So kommt es, daß man in diesem Haus für
jedes Gebäck den dreifachen Preis bezahlen muß.
Viele der anderen Wirte in Lohr verschwanden sogar ganz spurlos, weshalb
man inzwischen vor der Stadt alte Flaschen sammelt, sie zerschlägt
und in ihnen nach den Gastronomen sucht. Geht heutzutage ein Fremder durch
Lohr, sichtet er wohl vielerlei kunstvolle schmiedeeiserne Ausleger, die
auf altehrwürdige Gaststätten hinweisen, findet aber dieselben
nicht mehr; statt zum Schwanenwirt, der Rose, oder zum Kaffeehaus Salzmann
gelangt man zu Geldverleihhäusern, im ehemaligen Löwen zu einem
Latschenmeister und selbst aus dem feinen Hotel Fuchsen ist ein Haus des
Schlappens geworden. Den Schwarzen Adler erblickt der Reisende überhaupt
nicht mehr, und die Post und den Stern hat der rachsüchtige Hirschenwirt
in die Keller gebannt.
Andere sagen, der Hirschenwirt sitze in Verkleidung im Stadtrat und mache
den Wirten der Stadt jede Erneuerung so teuer, daß sie lieber gleich
freiwillig in Flaschen fahren. So suchen viele Gäste der schmucken
Stadt Lohr vergeblich eine gastliche Stätte im Innern des Gemeinwesens.
Beim Ratswirt hört man stattdessen das Lärmen von Gästen
aus fernen Landen, die glauben, man trinke den Wein aus Maßkrügen
und jodele dazu. Man sagt, der Wirt gräme sich darüber so sehr,
daß er seinen Gästen nur noch einfachen, dünnen Wein ausschenkt
und die besten Tropfen selber trinkt.
Quelle: E-Mail-Zusendung von Hartmut Haas-Hyronimus, vom 8. November 2004, Hoimanns Erzählungen, Sage Nr. 4