5. Die Bergrothenley
Etwa auf halbem Wege zwischen Lohr und Marktbeidenfeld ragt über
der kleinen Stadt gleichen Namens die Burg Rothenfels auf steilem Berg
empor. Unten vor dem Ort macht die Hauptstraße eine Biegung, bevor
sie eine Eisenbahnbrücke unterquert, an deren Böschungen man
sonderbare Aushöhlungen erkennt. Man erzählt im Ort, anprallende
Motorradfahrer hätten das Erdreich so stark abgetragen, weil eine
bezaubernde junge Maid in der Abendsonne auf der Burg gesessen und ihnen
zugepfiffen habe. So hätten sie, vor Liebe blind, die Kurve vor dem
Bahndamm nicht beachtet und seien denselben hinaufgefahren.
Von der Bergrothenley selbst erzählt die Sage, sie sei eine blühende
Maid von hinreißender Schönheit gewesen, zu der schon in frühester
Jugend von weither die Mofa- und Motorradfahrer gekommen seien, um sie
in die Diskothek nach Windheim mitzunehmen. Ihr Vater habe ihr aber jedesmal
streng verboten, auf den Sozius zu steigen. Als sie in die Jahre kam,
wollte sie selbst ein Motorrad haben, ihr Vater erlaubte ihr aber nur,
mit dem Fahrrad zu dem Metzgerladen, wo sie Wurst verkaufte, zu fahren.
Eines nachts hatte sie das langsame Dahinfahren satt. Heimlich stahl sie
sich aus der elterlichen Behausung, entwendete die Yamaha ihres Nachbarn
und ließ sie am Berge vor dem Haus anrollen. Stundenlang fuhr sie
die Hügel hinauf und hinunter, bis der Inhalt ihres Tankes zur Neige
ging. Mit den letzten Tropfen brauste sie noch den Burgberg zur Feste
Rothenfels hinauf, konnte im Hof aber nicht mehr richtig bremsen und landete
auf dem Burgdach.
Weil viele Leute im Ort sie kannten, vermied sie es aber, um Hilfe zu
rufen, sondern pfiff den im Tal vorbeifahrenden Motorradlenkern zu. Diese
waren aber alle von ihrer Erscheinung so geblendet, daß sie von
der Straße abkamen und ihre Maschinen zu Schrott fuhren. Als die
Maid dieses gewahr wurde, rief sie aus:
"Oh ich Arme, säße ich doch wieder auf meinem Fahrrad
und könnte die Scheiben der saftig riechenden Schinkenwurst der freundlich
lächelnden Kundschaft zureichen!", und stürzte sich in
die Tiefe.
Seither kam kein Motorradfahrer mehr an der Kurve unterhalb der Burg vorbei,
ohne Gefährt und oft auch Leben lassen zu müssen. Groß
waren die Klagen der Versicherer und man erwog, der Jungfrau das Handwerk
zu legen. Ein Jüngling sann, sich seinen Weg durch Wiesen und Felder
zu bahnen, um vor ihrem Anblick geschützt zu sein, und sich das zauberhafte
Wesen herunterzuholen. Er kam auch wohlbehalten mit seinem Motorrad an
der Burg an, stellte es vor dem Tor ab und machte sich auf die Suche nach
der Bergrothenley. In der Burg fand er aber nur eine große Zahl
halbuniformierter Wandervögel und Schreiber der Theologica nebst
einigen sonderbaren Mönchen vor. Auf dem Dach erspähte er nichts
als große Mengen garstigen Taubenmists und mußte noch die
Beschimpfungen des Hausmeisters hinnehmen, der von der Bergrothenley nichts
wissen wollte. Als er unverrichteter Dinge wieder von dannen ziehen wollte,
fand er aber auf dem Burgparkplatz sein schnelles Gefährt nicht wieder.
Viele Freunde und Helfer, die er anging, mußten ebenfalls nach langen
Bemühungen die Suche aufgeben.
Seither sieht, man in dunstigen Vollmondnächten im Altweibersommer
oft des Nachts den armen Motorradler umherirren, der die Wanderer und
heimkehrenden Wirtshaus-gäste mit einem tiefen Brummen erschreckt.
Auf der Burg sieht man immer noch Scharen von jungen Pfadfindern, die
aber bis heute noch kein Motorrad gefunden haben. Und die Bergrothenley
holt immer noch regelmäßig Jahr für Jahr einen Motorradler
vom Sattel.
Quelle: E-Mail-Zusendung von Hartmut Haas-Hyronimus, vom 8. November 2004, Hoimanns Erzählungen, Sage Nr. 5