Theodor Vernaleken, Kinder- und Hausmärchen in den Alpenländern, Wien 1863

Vorwort

Während ich die »Alpensagen« und die österreichischen »Mythen und Bräuche« (Wien 1858 und 1859) für wissenschaftliche Zwecke sammelte, konnte es mir nicht entgehen, dass die Poesie des Volkes, wie sie sich in den Märchen offenbart, noch Ergiebigeres bietet. Ich ließ mir daher auch Märchen erzählen und schrieb sie getreu auf, wie sie im Munde des Volkes leben, und biete hiermit der Jugend und den Freunden der reinen Naturdichtung ein Seitenstück zu den mehr im nordwestlichen Deutschland heimischen Kinder- und Hausmärchen des unvergesslichen Brüderpaares Grimm.

Da bereits viele Märchen durch den Druck verbreitet sind, so werden neue Sammlungen immer schwieriger und fordern in jeder Hinsicht zu großer Vorsicht auf, die ich meinesteils nicht habe fehlen lassen.

Dass ich keine bloßen Variationen gebe, wird der Kundige bald selbst bemerken. Ich fasse die Bedeutung des Märchens überhaupt so:

Das Gebiet der reinen, naiven Poesie hat gewisse Grade. Die Musik, weil sie nicht vom Wort getragen wird, hat hinsichtlich ihrer Motive den weitesten Umfang, sie ist gewissermaßen unendlich. Die durch das Wort gebundene eigentliche Poesie ist teils lyrisch, teils episch. Die Gesangslyrik ist in ihren Motiven reicher als die Märchenpoesie. Alles Übrige in Lyrik und Epik lehnt sich mehr oder weniger der Begriffswelt, dem Leben oder der Geschichte an. Das Märchen ist die reinste Epik und empfängt seine Motive von der Natur und dem angeborenen religiösen Glauben, der Naturreligion, und ist so wie keine Dichtungsart ein Erzeugnis der Phantasie und Eigentum der gesamten Menschheit. Daher auch die große Übereinstimmung in den Märchen aller Völker. Man darf sich daher nicht wundern, wenn gewisse Motive in allen Variationen wiederkehren. Die Märchenpoesie ist trotz der Einheit unendlich mannigfaltig, und in ihr spiegeln sich die nationale Auffassung der Natur und der angeborene, oft mit Humor verquickte, religiöse Sinn des betreffenden Volkes. In der Märchenpoesie liegt zugleich die innere Geschichte der Naturreligion der Völker, und darum sind selbst neue Variationen von Bedeutung. Ich sehe in den Märchen und Sagen die Grundlage zu einer Geschichte des menschlichen Dichtens und Glaubens; hier berühren sich Mythologie und Kulturgeschichte auf das innigste. Ohne diese Grundlage wird der Philosoph niemals zu einem klaren Bewusstsein gelangen über das Wechselverhältnis zwischen Natur und Menschengeist und über die Abhängigkeit des menschlichen Sinnens und Denkens von der Natur.

Die Tradition ist gleichsam das poetische Stillleben der Menschheit, das durch alle Kämpfe und Wandlungen der Zeiten ruhig sich fortspinnt. Der Volksglaube, das Volkslied und die Hausmärchen sind lange die Poesie des Volkes gewesen; mit dieser Poesie verschwindet zugleich die alte Sitte des deutschen Hauses, und nur in wenigen Familien tritt ein zeitgemäßer Ersatz ein. Was die Volksmärchen anbetrifft, so wird man sie der Jugend niemals entziehen können, und wo die mündliche Überlieferung aufhört, wird die gedruckte ihren Platz einnehmen. Diesen Entwicklungsgang mag man bedauern, aber er lässt sich nicht aufhalten.

Das Volk lässt nicht ab, seine natürliche Lust am Wunderbaren zu befriedigen, und es schafft Gestalten, die ihm im Elend vielleicht oft zum Trost gedient haben. Der Übergebildete begreift das nicht; er hält es für ein bloßes »Farbenspiel gehaltloser Phantasie«. Man muss des Volkes Sinn und Art sich immer vergegenwärtigen, wenn man diese Phantasiegebilde verstehen will. In der gläubigen Phantasie vermittelt sich alles durch den Hintergedanken, dass durch Zauber alles möglich ist.

Das Zauberhafte und Wunderbare tritt besonders in den Märchen und Heldensagen hervor, heißt dieser Held nun Perseus oder Herakles, Siegfried oder Hans. Unser Volk hatte seinen Siegfried und seinen Eulenspiegel, zwei echt nationale Gestalten, die umgewandelt und zum Teil vereinigt in unserer Zeit in dem »starken« oder »dummen« Hans auftreten. Dieser neue Ansatz mythischer Personifikation hat merkwürdigerweise noch immer die Dreiteilung der alten Götterbildung bewahrt, indem Hunderte von Märchen von drei Brüdern erzählen. Dass gerade der Dumme zu den höchsten Ehren kommt, scheint tiefe Wurzeln im Volksglauben zu haben. Die starke und komische Seite dieses Volkshelden, des deutschen Hans, werde ich, wenn die vorliegenden Märchen sich der Gunst und Teilnahme zu erfreuen haben, in einer Fortsetzung mit vielen Beispielen belegen.

Vorzüglich war mein Augenmerk gerichtet auf die letzten Schößlinge unserer Heldensage, an denen das Volk sich noch immer erfreut und die es mit anderen Märchenzügen wunderbar durchflicht. Ich bemühte mich, »die Stückchen des zersprungenen Edelsteines« zu entdecken, die halb verborgen auf dem Mythenboden des Volkes zerstreut liegen.

In den am Schluss gegebenen Anmerkungen habe ich zwar die Orte angegeben, wo das Märchen zuletzt erzählt wurde, allein es ist bei Märchen kein so großes Gewicht auf die Örtlichkeit zu legen, da immer Wanderungen stattgefunden haben, und diese sind nicht zu verfolgen.

Wien, am 18. Oktober 1863                               Theodor Vernaleken

Quelle: Theodor Vernaleken, Kinder- und Hausmärchen in den Alpenländern, Wien 1863.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Sabine Strasser, Jänner 2006.
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