Die geraubte Königstochter

Es lebte einst ein mächtiger König, welcher eine ebenso reiche wie schöne Gemahlin hatte. Diese gebar ihm ein Mädchen. Als aber der Tag der Taufe kam, wusste der König nicht, wen er zur Taufpatin nehmen solle. Da erschien am Vorabend eine weiße Frau, die sich hiezu antrug, und die Eltern nahmen das Anerbieten freudig an, denn sie dachten, das Kind werde von der Zauberin reich mit Geistesgaben beschenkt werden. Sie fanden sich auch in ihren Hoffnungen nicht getäuscht, denn die Frau beschenkte das Kind verschwenderisch mit allem Erdenklichen. Zugleich verbot sie aber den Eltern, das Mädchen vor ihrem zwölften Lebensjahr aus dem Zimmer gehen zu lassen, indem sie sonst unglücklich würde.

Das Mädchen war bereits elf Jahre alt geworden, als es an einem schönen Sommertag seinen Vater bat, ob es nicht mit auf die Jagd gehen dürfe. Dieser konnte dem dringenden Bitten nicht widerstehen und willigte endlich ein. Doch kaum hatte das Mädchen das Zimmer verlassen, als sich draußen auf einem schönen geflügelten Pferd ein Mann zeigte, der sogleich das Mädchen ergriff und mit ihm sich in die Lüfte erhob. Der König rief um Hilfe, doch vergeblich, denn das Pferd war schon so hoch, dass er es kaum mehr bemerkte. Er ging nun zu seiner Gemahlin und berichtete ihr den Vorfall, über welchen beide höchst betrübt waren.

Eines Abends kam die weiße Frau, welche das Unglück der Prinzessin erfahren hatte, zum König, um ihn wegen des Verlustes seiner Tochter zu trösten. Sie konnte zwar nicht helfen, da sie über den Teufel, von dem das Mädchen fortgeführt war, keine Macht hatte; doch gab sie den betrübten Eltern den Trost, dass ihre Tochter noch gerettet werden könne, wenn ein Jüngling unter zwanzig Jahren es wage, in die Hölle zu gehen und die drei Wasser des Lebens, der Schönheit und der Liebe zu holen; dadurch würden nebst ihrer Tochter noch zwei andere Prinzessinnen erlöst werden.

Der König ließ nun im Lande verkünden, dass derjenige, der seine Tochter aus den Händen des Teufels errette, dieselbe zur Gemahlin bekomme.

Lange Zeit meldete sich niemand. Endlich kam ein Bauernbursche und wollte sein Glück versuchen. Der König gab ihm viel Geld mit, damit er keine Not zu leiden brauche. Der Bursche schritt rüstig vorwärts. Als er schon längere Zeit gewandert war, kam er zu einem alten Weib, an dem man vor Runzeln kaum das Gesicht sah.

Auf seine Frage, ob hier der rechte Weg zur Hölle sei, kreischte sie: »Was hast du denn dort zu tun? Lass ab von deinem Vorhaben, denn der Teufel ist ein Menschenfresser und wird dich gewiss auffressen, wenn er dich erblickt.« Der junge Bauer ließ sich jedoch nicht abhalten. Da gab ihm die Alte eine Rute mit dem Bemerken: »Wenn du mit der rechten Hand damit herumhaust, können dir die wilden Tiere, die am Eingang der Hölle stehen, nichts anhaben.«

Der Bauer bedankte sich und ging weiter. Da begegnete er einem Hahn, der ihn fragte, wohin die Reise gehe. Er erwiderte: »Ich will in die Hölle, um die geraubte Königstochter zu retten.« Der Hahn riet ihm davon ab; als aber seine Bemühungen vergebens waren, so lud er ihn in seine Behausung ein, um dort einige Erfrischungen zu sich zu nehmen.

Als sie in der kleinen Höhle ankamen, gab ihm der Hahn drei Federn mit dem Bemerken: »Stecke sie auf den Hut, und du wirst vor den Tieren in der Hölle sicher sein.«

Der Bauer dankte und schritt, durch Erfrischungen gestärkt, rüstig vorwärts. Nach einiger Zeit kam er zu einer alten Frau. »Ist hier der rechte Weg zur Hölle?« fragte er.

Sie bejahte es und gab ihm ein großes Schwert mit den Worten: »Das wirst du wohl gut brauchen können.« Sie fügte hinzu: »Wenn du zum Eingang der Hölle kommst, werden zwei Schlangen dich fragen, wer du bist; darauf darfst du jedoch keine Antwort geben, sondern du schlägst jede der Schlangen mit deinem Stäbchen auf den Kopf. Sollten sie dir dann noch den Eintritt verwehren, so stecke eine von den drei Federn, die du von dem Hahn erhalten hast, auf das Stäbchen und berühre damit die Zungen der beiden Schlangen, worauf sie zischend davoneilen werden.«

Der Bauer dankte ihr und eilte, um die Hölle noch vor einbrechender Nacht zu erreichen.

Als er dort angekommen war, befolgte er genau den Rat der Alten. Es traf auch alles so ein. Er kam in einen langen, spärlich beleuchteten Gang, welcher mit den scheußlichen Ungeheuern, mit Drachen und Schlangen erfüllt war. Diese konnte er nur durch das Umhauen mit dem Stäbchen von sich entfernt halten. Der Gang führte in einen großen Garten, in dem ein Schloss stand, das verschwenderisch mit Gold und Silber verziert war. Der Bauer wusste nicht, ob er stehenbleiben oder in das Schloss gehen sollte. Endlich entschloss er sich, hineinzugehen.

Er war schon durch mehrere reich ausgestattete Zimmer gegangen, als er endlich zu einem kam, in welchem er Frauenstimmen hörte. Er ging hinein und bemerkte drei Prinzessinnen, die über sein Erscheinen höchst erstaunt waren. Denen erzählte er, warum er gekommen sei.

Darüber waren sie wohl sehr erfreut, sie fürchteten jedoch, dass er sein Ziel nicht erreiche, »denn der Teufel«, sagten sie, »geht auf Mädchenraub aus, hält uns schon lange Zeit gefangen, und dich wird der Menschenfresser nicht verschonen«. Alsdann verabredeten sie, es solle ihn jede eine Nacht unter dem Strohsack ihres Bettes verbergen, da der Teufel bei Tage seiner gewöhnlichen Beschäftigung nachging.

Als nun der Abend kam, verbarg ihn die eine unter dem Strohsack ihres Bettes. Eben war sie damit fertig geworden, als der Teufel in Gestalt eines Drachen hereinkam und schrie: »Ich rieche Menschenfleisch; wenn ihr mir nicht sagt, wo es sich befindet, so fresse ich euch alle drei.«

»Oh«, sagte die eine, »es ist ja die Wildbretkammer offen, und in dieser ist frisch geschossenes Wild, welches riecht.« Der Teufel ließ sich dadurch besänftigen, legte sich zu Bett und schlief die ganze Nacht. Als sich am Morgen der Teufel entfernt hatte, kroch der Bauer aus seinem Versteck hervor, und die Prinzessinnen zeigten ihm alles, was im Schloss zu sehen war.

Am Abend versteckte ihn die zweite Prinzessin in ihrem Bett. Als der Drache nach Hause kam, schrie er wütend: »Ich rieche Menschenfleisch!«

»Oh, was denkst du«, sagten sie, »da drinnen ist ja ein frisch geschlachtetes Kalb, das verbreitet diesen Geruch.« So wurde er wieder besänftigt.

Am dritten Abend bot ihm die dritte Prinzessin ein Versteck an, und als der nach Hause kommende Teufel wieder Menschenfleisch roch, erwiderte sie: »Es ist nur die Einbrennsuppe, die verbrannt ist, und daher kommt der Geruch.« Der Teufel ließ sich abermals beschwichtigen und legte sich zu Bett, um am anderen Morgen wieder seinen Geschäften nachzugehen.

Dadurch nun, dass der Bauer bei jeder der drei Prinzessinnen eine Nacht zugebracht hatte, waren sie erlöst, und sie entflohen miteinander. Der Bauer nahm aber mit sich die drei Wasser des Lebens, der Schönheit und der Liebe, wovon jede der Prinzessinnen eines aufzubewahren hatte. Sie setzten sich auf den Spazierwagen des Teufels und spannten sein geflügeltes Leibpferd an. Bei der Pforte fragten zwei Schlangen, wer sie seien, worauf sie jedoch keine Antwort gaben.

Als sie einige Zeit in schnellem Trab gefahren waren, kamen sie in einen Wald, in dem sie sich verirrten.

Schon war es Nacht geworden, und es zeigte sich kein Ausweg. Endlich bemerkten sie ein großes Gebäude, welches aber die Prinzessinnen sogleich als den Lieblingsaufenthalt des Teufels erkannten, und sie waren daher um ihr Leben besorgt. Der Bauer verbarg sie jedoch in einer nahen Höhle und ging allein in das Haus, in der Hoffnung, den Drachen mittels seines Schwertes erlegen zu können. Bei der Pforte bemerkte er eine Schlange, welche als Torhüter diente.

»Ist der Teufel zu Hause?« fragte er.

Sie nickte, aber sie ließ ihn nicht hineingehen. Da hieb er mit dem Schwert auf sie ein und trennte den Kopf der Schlange vom Rumpf.

Kaum war dies geschehen, so erschien der Teufel selbst vor der Tür, und es begann nun ein harter Kampf zwischen dem Teufel und dem Bauern. Dieser jedoch behielt die Oberhand, und schnell eilte er zu den Prinzessinnen, um ihnen die frohe Botschaft zu bringen, und sie waren darüber sehr erfreut.

Sie wanderten nun weiter und erreichten bald die Hütte der alten Frau, von welcher der Bauer das Schwert erhalten hatte. Die Alte bat den Bauern, er möge ihr einen Tropfen vom Wasser des Lebens schenken. Das tat er auch. Sie benetzte mit diesem Tropfen ihr Gesicht und erschien nun dem Bauern als Jungfrau. Gleichzeitig fing es heftig an zu donnern und zu blitzen, und an der Stelle der Hütte zeigte sich ein herrliches Schloss. Die Jungfrau dankte für ihre Erlösung und bewirtete ihn nebst seinen drei Begleiterinnen aufs Beste.

Am anderen Tag setzten sie die Reise fort und erreichten am Abend die Wohnung des Hahns. Dieser war über die Erlösung der drei Prinzessinnen höchst erfreut und bat den Bauern, er möge nun auch ihm zur Erlösung verhelfen; das könne dadurch geschehen, dass er die drei Federn, die er einst von ihm erhalten hatte, an den Stellen, wo sie fehlten, wieder befestige. Und das geschah.

Kaum war er damit fertig, als es heftig knallte; an der Stelle der ärmlichen Wohnung des Hahns stand ein Schloss, und der verwunschene Hahn erschien als Prinz. Er dankte ebenfalls für seine Erlösung, und der Bauer wanderte dann mit den drei Prinzessinnen wieder weiter und erreichte bald die Hütte der alten Frau, welche ihm das Stäbchen gegeben hatte. Auch diese erlöste er, indem er die vier Ecken ihrer Wohnung berührte. Auf einmal stand ein herrliches Schloss da, und die Alte zeigte sich als junge Prinzessin.

Am nächsten Tag erreichten sie die Wohnung des Königs. Wie der eine Freude hatte, lässt sich gar nicht sagen. Sogleich wurden Anstalten zur Hochzeit getroffen. Auch die weiße Frau war unter den Hochzeitsgästen.

Die zwei anderen von dem Bauern erlösten Prinzessinnen kehrten ebenfalls heim zu ihren Eltern.

Quelle: Theodor Vernaleken, Kinder- und Hausmärchen in den Alpenländern, Wien 1863.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Sabine Strasser, Februar 2006.
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